@ Elisabeth
Ich kann Dir genausogut auch supertolle Ecken in Gera zeigen. Das schafft man vermutlich mit fast jeder Stadt. Ok, bei Hanau müßte ich nochmal in mich gehen...
Ich war auch mal Jena-Fan. Habe dort vermeintlich schöne Jahre verbracht (die aus Abstand betrachtet gar nicht so toll waren, sondern die pure Entfremdung im akademischen Laufrad, heute zahle ich einen hohen Preis dafür) und ließ meine Wohnung (die aus heutiger Sicht eine Unverschämtheit war, was ihren Zustand und die Nachbarn betraf) noch lange nach meinem rein berufsbedingten Weggang stehen, bevor sich sie mit Herzweh auflöste und die Tür hinter mir zuzog. Was folgte (Berlin) war wohnungsmäßig um Längen besser und auch mit den Nachbarn hatte ich Glück. Das angesagte Szene-Berlin mußte ich erst hinter mir lassen (also erkennen, daß es nicht meins und jeder Kontaktversuch dort zum Scheitern verurteilt ist). Menschlich hing ich aber weiterhin in Jena (wegen eigentlich nur einem Freund) und der Job in Berlin war übel. Nach 3 Jahren also Chance ergriffen und zurück.
Ich hätte vorher mal auf mich hören sollen. Mein Leidensdruck war in Berlin so groß, daß es auch mal zu einer systemischen Aufstellung kam, während der sich "Jena" (ein Stellverteter, den ich für diese Stadt aufgestellt hatte) von mir abwandte. Aussage des Aufstellers: "Jena will dich nicht mehr." Und genau so wurde es. Es folgten 5 Jahre auf Asylanten-Niveau, 4 WGs mit allem Elend, was man erleben kann: eiskaltes Zimmer im Hinterhof in der Planetariumsstraße mit zusammengeklautem Mensa-Geschirr in der vergammelten Küche, 9 qm für 250 EUR mit einer Psychopathin im Nebenzimmer, Auseinandersetzungen mit Rauchern in WG-Küchen, demütigende Castings, widerwärtige Makler, wochenlang keine Unterkunft und in Geschäftsräumen eines Freundes gepennt, derweil meine Sachen in 2 Umzugskartons im Serverraum auf Arbeit. Und immer fein einen 10-12-Stunden-Tag in der Jenaer Wirtschaft und sich den ganzen Tag anhören, wie supertoll doch alles wäre. Das ist wie real existierende DDR-Propaganda: man sagt dir, wie supertoll und heil die Welt ist, in der du leben darfst.
Ich würde es als Einzelfall abtun, wenn ichs nicht von manchen Kollegen wüßte. Da hausten promovierte Mittvierziger mit Familie und Kindern anderswo in befristeten WGs. Da lebten manche monatelang aus dem Kofferraum ihres Autos. Da zog einer in eine Kellerwohnung und einer übernahm die recht baufällige Bude des ehemaligen Produktionsleiters. Schön, wenns Dich nicht so erwischt hat. Wenn man das Glück einer repressalienfreien intakten Wohnung hat, ist Jena durchaus auszuhalten, solange man nicht mit den Amtsmühlen zu tun bekommt. Noch extremer: die Bonzen, denen man in Jena dann auch mal den Garten einer KiTa zuschanzt, damit sie dort ihre Villa bauen können, die diktieren doch dem Homestory-Schreiberling der OTLZ auch euphorische Geschichten in den Block. Wie toll Jena doch auch nach Jahren in den USA und anderswo sei, wie grün und doch städtisch, ... und haben für sich auf ihren Grundstücken doch auch Recht mit dieser Aussage. Das betrifft aber nicht ihre Arbeitskräfte.
Nimm Jena 10.000 Einwohner und gib den alten Jenensern ein paar Grundrechte wieder, z.B. das auf Wohngesundheit und Nutzung ihrer Stadt (statt Verkauf und Zubetonierung des letzten Quadratmeters an/durch externe Finanzjongleure) oder das auf ungehinderten Zugang zu Informationen (
die benehmen sich in diesem Ghetto weitaus schlimmer als es die FDJ mit der Aktion "Ochsenkopf" jemals getan hat und dennoch sagt seltsamerweise keiner, wir lebten heute in einem Unrechtsstaat) und die Stadt ist wieder lebenswert. Aber das, was dort abgeht, dieser Mißbrauch der Einwohner als Zählvieh im Namen irgendwelcher "Exzellenz", das ist widerwärtig.
Ich habe es an Berlin sehr schätzen gelernt, daß man mich in Ruhe läßt, daß ich ihnen egal bin, daß mir niemand in mein Leben reinpfuscht. In Jena ist jeder Schritt geregelt und die ganze Stadt marschiert im Gleichschritt. Überreizte Menschen mit extremen Wohlstandsproblemen, viele erlebe ich als übel aggressiv, vor allem, wenn man ihnen den Spiegel vorhält. Es wirkt ungemein "glaubwürdig" glücklich und zufrieden, wenn nach 2 Minuten Kontakt eine einem bis dato unbekannte Akademikerin (Dr. med.) beinahe Prügel androht, weil man Dinge benennt, wie sie sind. Und sowas war bei mir kein Einzelfall. Um das Bild nochmal zu bemühen: auch der Kaiser Jena ist in mancher Hinsicht sehr, sehr nackt.
Klar, wenn man sich ein Umfeld einreichten kann, in dem man abgeschlossen sein eigenes Ding macht und die Stadt da draußen auf das allernötigste reduziert, dann gehts auch in Jena gut. Ich könnte mir durchaus vorstellen, wieder in Jena zu leben und zu arbeiten, wenn ich eine liebevolle Familie hätte und z.B. das Haus meiner einstigen Russischlehrerin (mal googeln: Reinholdweg). Da ich keine Familie haben werden kann und mich in Jena in die Schlange derjenigen einreihen müßte, die ihre Grundrechte an irgendeiner Wohnungstür abtreten wollen, rückt das aber in weite Ferne.
Ich kenne in Jena natürlich auch andere Leute. Welche ohne Fernseher, welche, die sich als Selbstversorger versuchen, in einem üblen Loch hausen und froh darüber sind, weil sie sich nichts anderes leisten könnten (mit 3 Kindern). Da, wo ich gerade bin, ists völlig anders. Da gehts nur um den Komplettausstieg, um Landbau und Permakultur, um Gemeingüter und Allmende. Die leute haben teils fast nichts, wissen nicht, wovon sie in einem Jahr leben werden, aber sie haben etwas, das mir fehlt und das ich mir unbewußt auch in den Jenaer Jahren (1988-2005) abtrainiert habe: sie haben Zugang zu ihrer Seele, sie spüren, was ihnen guttut und was sie wirklich im Leben brauchen. Und sie suchen danach und wagen auch Wege ohne Sicherheit. Meine Jenaer Bekannten sind bis auf eine alle weit davon entfernt. Viele haben Jena nie verlassen, sitzen seit der Diplomarbeit faktisch auf dem gleichen Stuhl und rühren in den gleichen Kübeln, fahren dann nach 12 Stunden in Akademien raus nach Lobeda in den unsanierten 70-qm-Plattenbau zu Frau und Kindern. Und sagen, in 6 Jahren ist die Große doch schon raus, dann ist wieder mehr Platz.
Nee, dann lieber hier, wo ich jetzt bin. Bei aller Zukunftsangst.