Habe diesen Thread erst jetzt gefunden. Sorry, muß dazu was schreiben, auch wenns so spät ist. Aber ich habe lange genug in Jena gearbeitet und gehaust wie ein Asylant.
elisabeth.die.erste hat geschrieben:
In jene lebt sich's bene!
Dann zieh doch hin. Viel Spaß bei der Suche nach einer Wohnung, die diesen Namen verdient. Viel Spaß, die dann zu bezahlen. Da geht das, was man in Jena vielleicht mehr "verdient", auch sofort wieder weg. Man stellt sich schon für Altneubau jahrelang mittels Warteliste an. Den Bonzen räumt man dann schonmal Platz für eine Villa frei, aber das scheitert für Normalmenschen. Ein befreundetes Paar (ex-Mitschüler, er Dr. der Physik, sie im medizinischen Bereich, 2 Töchter von 12 und 14) haust auf 75 qm in Plattenbau. Zum Glück unsaniert, denn sonst hätten sie auch noch Aufputzverkabelung im Wohnzimmer, weil Jena-Insassen Unterputzverkabelung nicht wert sind. In ihrer Wohnung kann man einen DDR-Film drehen, die fensterlose mini-Nasszelle ist noch original. Auch original ohne Wandfliesen.
Ein anderer ex-Kommilitone (ebenfalls Dr. der Physik) wurde nun zum Pendler. Mit Frau und Kind geht nix in Jena. Er baut nun irgendwo bei Stadtroda aufm Dorf und stellt sich wie viele andere morgens im Stau vor Jena an.
Ein ex-Kollege (Dr. der Chemie) kündigte und zog wieder weg, weil er sonst seine Familie gefährdet hätte. In Jena gab es für Frau, 2 Kinder und Hund sowieso keine Bleibe, also wich er nach Weimar aus, wo seine Frau depressiv wurde. Also Abbruch der Zelte und zurück nach Hessen.
Ein anderer ex-Kollege hauste monatelang in teils täglich wechselnden Pensionen und lebte aus dem Kofferraum seines Autos. Nach Gera wollte er keinesfalls ziehen - da wäre es "scheiße". Er war nie in Gera gewesen, aber das Image haftet der Stadt extrem an. Ich kann auch verstehen, warum. Ich schreibs unten.
Unsere zwei besten Führungskräfte pendelten nach Dresden zu den Familien. Der eine verließ das Unternehmen nach einem Jahr, der andere nach eineinhalb Jahren. Zurück zu den Familien, ein Nachholen nach Jena wäre undenkbar gewesen.
Eine Freundin (ebenfalls Naturwissenschaftlerin) haust mit nun 3 Kindern in einer unsanierten ofengeheizten Bude, im Keller flockte der Schimmel zumindest vor 2 Jahren. Mir grausts, wenn sie den Ofen mit selbstgehacktem Holz anheizt. Ich vermute, der Schornstein wird nicht mehr gekehrt. Alternativ stünden noch Gamat-Außenwandheizer aus tiefster DDR zur Verfügung, aber dafür reicht das Geld nicht. Eine andere Wohnung ist angesichts der Kassenlage natürlich auch nicht möglich.
Eine andere Freundin (Dr. med., alleinerziehend mit eineinhalbjähriger Tochter) hatte immerhin Glück, eine innerlich sehr intakte Wohnung zu ergattern. Der Blick aus dem Fenster geht auf parkende Autos und graue Wände. Da wohnt eine Ärztin mit Mini-Familie, die anderswo längst ein eigenes Haus oder eine elegante Eigentumswohnung in guter Lage hätte, in einem Umfeld voller Studenten-WGs und grauer Tristesse. Und im Treppenhaus hängt seit einigen Wochen eine Info der Wohnungsgenossenschaft, man möge bitte nicht erschrecken, daß das heiße Wasser jetzt plötzlich wärmer wäre, aber man habe mal hochheizen müssen, weil die gesetzlich vorgeschriebene Untersuchung Legionellen ergeben hätte. Vorher kam das "heiße Wasser" stets mit etwa 35 Grad aus der Leitung - da freut sich derjenige, der die Verbräuche abrechnet.
Für einen ex-Kollegen war es nur allzu selbstverständlich, daß seine Wohnungsgesellschaft die Mieter "wie Dreck" behandele. Das ist halt so. Jena ist aber dennoch die einzge Stadt der Welt, weil da der phantastische FCC regiert. Nur! Der! FCC!
Ich könnte das fortsetzen. Ich könnte auch die Klagelieder von Senioren aufschreiben, die seit den 60ern in Jena wohnen und arbeiteten, er Akademiker, sie Lehrerin, eng mit der Kulturszene verbunden. Die Klagen über die Aggressivität im öffentlichen Raum, über die Arroganz der neuen Herrenrasse, die Zerstörung der Innenstadt, die Zerstörung der alten Wohnsiedlungen, die Versorgung mit Lebensmitteln (wenn Senioren mit dem Taxi zum Lebensmitteleinkauf fahren müssen, weil im Umkreis von 2 km nichts mehr zu kaufen ist, spricht das Bände).
Ich könnte über den Nahverkehr schreiben, der ab 20 Uhr faktisch nicht mehr existiert, was mir einen abendlichen Weg von der Arbeit in die Unterkunft von etwa einer Stunde beschert hat. Ich könnte von den "Strafgebühren" für die Nutzung öffentlicher Buslinien schreiben. Man muß, wenn man in zu Jena gehörende Randbezirke will, zu den 1.90 EUR noch 3 (drei!) EUR Zuschlag zahlen. Ohne je ein Auto pro Familienmitglied geht gar nichts. So zugestopft ist Jena dann auch. Ich hätte kein Wohnklo in der Innenstadt gebraucht, da ich keine Parties feiere und meine Ruhe sowie frische Luft haben will. Das wäre nur mit Auto gegangen, aber so eine Blechkiste hänge ich mir nicht ans Bein.
Ein Freund (ebenfalls Physiker, aber völlig artfremd als Freiberufler unterwegs) hat sich mit seinem Partner ein Haus außerhalb gebaut. Da stecken 500.000 EUR drin, unter dem geht nix. Und sie brauchen freilich 2 Autos.
Die Geraer wollen immer die Jobs der Jenaer (es sind oft keine Jenaer, sondern ebenso Pendler, die da arbeiten, oft weit weg von den Familien), aber sie wollen das Drumherum nicht. Eine dermaßen "satte" Stadt hat es nicht nötig, ihre Einwohner anständig zu behandeln. In Jena regiert der Markt und die häßliche Fratze des Geldes sieht man in Jena überall. Wo andere Städte noch etwas Grün haben, hat Jena meistbietend entstandenen Beton.
Wäre Gera wie Jena, dann wäre auch folgendes anders:
- sofortige Einstellung der Busverbindungen nach Weißig, Collis-Zschippern, Schafpreskeln, Falka, Rubitz / Harpersdorf, ... und masisves Ausdünnen der Takte
- Wohnungen nur mit Schmiergeld oder jahrelangem Warten oder ab 8 EUR kalt für Hinterhöfe
- Zubetonierung jeglichen Stadtgrüns und Vernichtung des Baumbestandes durch mutwillig falschen Baumverschnitt
- Hofwiesenbad Mindsteintrittspreis 7 EUR und Verkleinerung der nutzbaren Schwimmfläche auf 3 Bahnen mal 25 Meter bzw. überhaupt kein Bad mehr
Dafür hätte Gera dann freilich auch etliche tolle gut bezahlte Jobs, auf denen sich Zugezogene und Karrieredurchreisende tummeln. Und Geras Familien würden sich zermartern, auf welche besonders edle Schule sie ihren Nachwuchs schicken können. Und man hätte das Image der wichtigsten, edelsten, besten Stadt der Welt, obwohl man letzlich nur noch ein Campus mit Gewerbegebiet ist und die Einwohner nix zu melden haben. Und man würde nicht dauernd meckern, sondern auch noch die größe Demütigung super finden, weil man ja zur Herrenrasse gehört.
Gera hat neben der fehlenden Wirtschaftskraft freilich weitere Probleme, die auch aus meiner Sicht dafür verantwortlich sind, daß das Image desaströs ist und die Leute lieber in Jena wie die Sardinen zu Höchstpreisen wohnen, statt nach Gera zu pendeln (selbst bahnmäßig eine Strecke, über die in Berlin niemand nachdenken würde): geht mal mit offenen Augen durch die Stadt, durch die Gera-Arcaden, in die Post, überallhin, wo Menschen sind. Und macht das dann mal in Jena. Ein extremer Unterschied, man spürt ihn sofort. In Gera ists mehrheitlich dumpf und platt, in Jena wesentlich intelligenter (damit meine ich nicht die anzugtragenden Wichtigtuer, sondern eher die Schoeffel- oder Northface-tragenden jungen Familien). Und wenn ich dann im Weihnachtskonzert des Rutheneums sitze, dieses Potential und dieses wohltuende Niveau sehe und weiß, daß die alle nach dem Abi wegziehen müssen und nicht wiederkommen können, wenn sie angemessene Jobs haben wollen, dann wird mir kotzübel.
Ich könnte mir Gera sogar mit wenig Jobs vorstellen, als Wohnort für Jena-Akademiker. Dazu bräuchte es aber eine Art von Attraktivität, die nicht per Beschluß geholt werden kann. Es ist das Gesamtniveau der Stadt, das Klima im öffentlichen Raum. Ich bin nicht so oft in Gera, leide aber, wenn ich hier mal tagsüber unterwegs bin. Ich sehe schlichtweg kaum jemanden, den/die ich gerne ein zweites mal sehen wollen würde. Das ist in Jena schon heftig anders, aus meinen Schweiz-Aufenthalten kann ich dann einen noch heftigeren Kontrast berichten. Damit kollidiert dann ein hohes Potential auf anderem Gebiet (Villen, Museen, Kunst, Theater, Alt-Untermhaus), da kann Jena kein bißchen mithalten. Aber das nimmt in Gera ja kaum jemand wahr.
Übrigens bestehen durchaus Chancen, wie man in Berlin sieht. Da werden üble Hinterhofgegenden binnen 2-3 Jahren zu angesagten Szenevierteln. Da ziehen die Leute um, um dabei zu sein. Neukölln ist grade dran, wer hätte das gedacht? Wirtschaftlich hat sich da freilich nichts geändert, es sind reine Image-Sachen. Es zählen die Menschen, die eine kritische Masse erreichen müssen.