Guten Morgen,
pfiffikus hat geschrieben:
Radiowaves hat geschrieben:
Manches noch viel üblere verschweigt der Artikel, entweder ist die Autorin nicht tief genug eingetaucht oder sie hat manches zur Sicherheit lieber unterlassen zu schreiben.
Genau das ist auch mein Eindruck. Die Seiten mussten ja irgendwie voll werden. Nur so kann man sich erklären, in welchem Umfang über eine Demo berichtet wird, an der ganze 7 Leute teilnehmen. Gibt es hier nichts Wichtigeres?
Ich meinte andere Dinge als die tiefe Ursachenforschung, die Du hier zu betreiben versuchst. Ich meinte eine noch deutlichere Formulierung der Situation der "Gerschen Volksseele". Die eben bis dahin führt, daß z.B. eine Arztfamilie, die sich naiv in Gera ein Haus hat bauen lassen (der Job war halt hier) nach 3 Monaten wieder wegzog und sich in Jena eine Mietwohnung suchte. Unter anderem, weil sie ihr Kind an einem Ort mit einem anderen Selbstverständnis aufwachsen sehen wollen, damit ihm nicht durch schlechten Umgang die Zukunftschancen genommen werden. DAS ist die Wahrnehmung, die Gera von Menschen bekommt, die im Leben noch etwas erreichen wollen. Diesen Status muß man sich erst einmal "erarbeiten"! Natürlich ist dieser Status etwas "unfair", da Gera als ganzes nicht so ist, aber dieser dunkle Schatten über der Stadt ist so allumfassend, daß er Image-bestimmend geworden ist.
Dazu auch ggf. nochmal den Artikel aus der ZEIT vom vergangenen Sommer lesen. Der war da deutlicher.
pfiffikus hat geschrieben:
Es gab in der Bundesrepublik mal eine einzige Großstadt,
- die aus allen Richtungen nur eingleisig ans Bahnnetz angebunden war,
- die nicht ans elektrifizierte Schienennetz angeschlossen war und
- die nicht vom Fernverkehr angefahren wurde.
Heute gibt es diese Kuriosität nicht mehr, denn Gera ist keine Großstadt mehr.
Und dann gibt es Orte, die befinden sich auch an nicht elektrifizierten Strecken (zumindest in Deutschland) oder haben gar keinen Bahnanschluß - und die Stimmung dort ist nicht so im Keller wie in Gera und die Leute kommen finanziell sehr gut über die Runden.
Klar, der ICE ist ein Statussymbol, aber wer häufig mit der Bahn fährt, statt das Thema nur politisch-"theoretisch" zu betrachten, der kann mir u.U. folgen, wenn ich sage: es muß kein ICE sein. Wichtig ist ein umsteigefreier Fernverkehr bis in die Metropolen. Ich bevorzuge, wenn möglich, zwischen Berlin und Leipzig z.B. den IC, weil ich mich in den Wagen wohler fühle als im ICE, wo es ständig unterm Sitz aus dem Antriebsbereich heraus wimmert beim ICE-T und wo es mir zu eng ist und vom Innenraum her nicht gefällt.
Übrigens: wer noch ein Kursbuch der DR von z.B. 1989 hat, möge mal schauen, wie die Verbindungen damals nach Westen und Norden waren. Es gab nur sporadisch Züge. Es gab keinen Taktfahrplan. Die Fahrzeiten waren teils krass länger (auch wegen Herumsteherei), z.B. Gera-Göschwitz teils über eine Stunde - heute die Hälfte. Da hat sich selbst ohne den begehrten Fernverkehr viel getan, nur fuhr man halt selbst im Bghwe-Wagen (der mit der Pendeltür zwischen Raucher und Nichtraucher und den 2 Klappsitzen aufm Perron) komfortabler als im 612er Neigezug.
pfiffikus hat geschrieben:
- Optische Industrie
Zeiss hat seinen Hauptsitz in Jena hat die Produktion dort zentralisiert, vom Gerschen Zweigbetrieb ist nur ein leeres Gewerbegebiet übrig geblieben.
POG vergessen? Ok, die ziehen nun auch weg, weil sie eine größere Gewerbefläche brauchen und sich das OTZ-Gebäude in Löbichau dafür anbot. Aber POG hat in Gera stabil über mehr als 25 Jahre lang wenigstens einige Arbeitsplätze auf "Jena-Niveau" erhalten. Einige der Jenaer Hightech-Unternehmen, die weltweit mitspielen, haben vergleichbare Größe oder sind sogar kleiner.
pfiffikus hat geschrieben:
- Bergbau im Ronneburger Revier
Diese zahlreichen Arbeitsplätze sind ersatzlos weggefallen.
...alles weitere kann man auch in NRW studieren. Interessanterweise mit teils ganz ähnlichen Entwicklungen. Da gibt es Verlierer-Städte und gleich nebenan Städte, in denen ein Technologiepark neben den anderen gebaut wird. Schaut man dann genauer hin, stellt man fest, daß eine bereits bestehende und anerkannte große Universität vor Ort offenbar entscheidender Katalysator für solche positiven Entwicklungen ist.
pfiffikus hat geschrieben:
Man hat in Thüringen die größte Stadt gleichzeitig zur Landeshauptstadt gemacht, die ihre Sogwirkung ins Umland schickt. Sinnvoller wäre eine Landeshauptstadt Gera und eine Metropole in Erfurt gewesen.
Diese Aussage hat Pfeffer! Ich hatte das so - wohl wegen des Gefühls von Absurdität - noch nie betrachtet. Aber spontan muß ich jetzt sagen, ja, da könnte was dran sein. Erfurt alleine hätte eine ganz andere Stärke gehabt, sich auch ohne den politisch "aufgeblasenen" Status stabil zu entwickeln. Gera hatte diese Kraft nicht. Doch dann hätte man auch Suhl, Nordhausen und einige andere Städte dafür nehmen können. Suhl war auch Bezirksstadt und hat diesen Status verloren.
Daß Gera direkt nach 1990 so von allem, was nur irgend möglich war, abgeklemmt wurde, finde ich im Nachgang immer noch "faszinierend". Da würden mich wirklich mal die Hintergründe interessieren. Wieviel davon war von außen politisch gewollt, wieviel war aus Gründen der Überlebensfähigkeit aufgrund kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten "unvermeidlich" und wieviel war damals schon der grauen, übellaunigen Aura der Geraer Volksseele (die kenne ich auch aus DDR-Zeiten schon so) geschuldet?
pfiffikus hat geschrieben:
[*]In diesen frühen Jahren war der Sitz einer neu zu gründenden Fachhochschule festzulegen. Die damalige Landesregierung hat sich für Jena entschieden, welches schon Universitätsstadt war. So drängelt sich dort alles, während Gera in die Bedeutungslosigkeit entlassen wurde und erst Jahre später zwei kleine Fachhochschulen bekam.
Aus Sicht der Fachhochschule ist Jena aber der weitaus bessere Standort, weil man dort direkt mit den Anwendungen in der Industrie verknüpft ist. In Gera wäre dem nur in sehr kleinem Umfange so gewesen und auch heute noch so. Jena hatte einfach mehr "Industrie 2.0" als Gera, war 1990 schon in der "Silizium-Zeit", während Gera weitgehend noch in der "Eisen-Zeit" war.
Letztlich ist das fast ein biodynamischer Vorgang: Gera war als Industriestadt eher auf dem Höhepunkt als es Jena war. Dafür war die Substanz - also auch das Produktions- und Entwicklungsspektrum - in Gera entsprechend älter. Dadurch hatte Jena nach 1990 viel bessere (Neu-)Startmöglichkeiten und der Stadt kam etwas zugute, das sie kurz nach dem Krieg schwer getroffen hatte: der Abtransport von Fachleuten und Anlagen durch die Amerikaner. Zumindest bei Zeiss ist das als Glücksfall zu bewerten, denn der westdeutsche Teil des Unternehmens - nun international verwurzelt und stabil - engagierte sich nach 1990 wieder am alten Standort. Schott tat das zwar auch (und nahm dabei einige bizarre Umwege in Kauf, um Arbeitsplätze zu erhalten), aber Schott steht allgemein nicht auf so stabilen Beinen, hat mehrfach in den vergangenen Jahren neue Produktionszweige vor die Wand gefahren und erwies sich dadurch als bei weitem nicht so stabile Unterstützung für Jena. Dazu kommen noch die Jenoptik und zahlreiche kleinere und mittlere Firmen sowie Institute, die - ähnlich der POG in Gera - es nach 1990 selbst wagten und sich teils sehr stabil etablieren konnten. Da steckt fast immer ein "Ende" einer Zeiss-Abteilung dahinter.
pfiffikus hat geschrieben:
- Der Goldene Spatz ist in Gera geschlüpft! (Wurde der im Artikel erwähnt?) Aber Erfurt schmückt sich auch mit seinen Federn.
Der Artikel zeigt das Grau auf, das Auswärtige in Gera empfinden. Dieses Grau über"strahlt" den Spatz genauso wie den Hofwiesenpark im Frühling/Sommer, wie das Hofwiesenbad, wie die Chöre des Rutheneums, wie die Museen, wie den frühen Abend mit tiefstehender Sonne im Küchengarten, wie die durchaus sehr schöne Landschaft rund um Gera.
Man kann nun durchaus sagen, der Artikel ist entsprechend einseitig. Ja, ist er. Aber wenn ich - und das mußte ich in den vergangenen Monaten häufig - in die Stadt muß zu Besorgungen, dann fahre ich mit dem Fahrrad auch am Lummerschen Backhaus vorbei über die Untermhäuser Brücke und durch den Hofwiesenpark, komme durch die Heinrichstraße oder auch mal den Elster-Radweg lang bis nach Zwötzen. Weitgehend schöne bis sehr schöne Gegend / Wege. Begegnete ich dabei unterwegs den Menschen, die zeitgleich im Jenaer Stadtzentrum, in der Oberaue oder in der Westbahnhofstraße (hässlich!) unterwegs sind, statt den Menschen zu begegnen, die mir nunmal in Gera begegnen, käme ich mit Sicherheit nicht so ausgelaugt, depressiv und hoffnungslos wieder nach Hause. Und deshalb geht es für mich sehr ok, wenn die Autorin dieses kollektive Grau in den Fokus gestellt hat - es dominiert die Energie dieser Stadt, zumindest für Menschen, die so empfindsam auf diesem Gebiet sind wie ich.
pfiffikus hat geschrieben:
- Druck: Die OTZ hat "Ostthüringen" nur noch im Namen, wird aber schon lange nicht mehr hier gedruckt, sondern wo?
Kapitalisten entscheiden im Kapitalismus nach kapitalistischen Grundsätzen. Das ist das Wesensmerkmal der "Gesellschaftsordnung", für deren Wiedereinführung wir 1989 auf die Straße gegangen sind. (Ja, mir ist sehr bewusst, daß das, was vorher realsozialistisch lief, auch keine Überlebenschance gehabt hätte.)
pfiffikus hat geschrieben:
- Schulen: Wenn im Erfurter Raum eine Berufsschule nicht ausgelastet ist, dann wurde jeweils ein Beruf ausgesucht, der nicht mehr in Ostthüringen ausgebildet wird, sondern drüben. (Landwirte, Tierwirte, Zierpflanzengärtner, Landschaftsgärtner, Floristen, ...) Beispiele für eine Verlagerung in die andere Richtung sind mir nicht bekannt.
Bei Schulen kenne ich mich nicht aus, aber das Arbeitsgericht Jena ist doch z.B. nach Gera verlagert worden? Gab damals auch in Jena das entsprechende empörte Geschrei, das es in solchen Fällen wohl immer gibt (und ja, Pendeln ist verbrannte Lebenszeit, aber leider für viele Realität).
pfiffikus hat geschrieben:
Obwohl die SRH-Hochschule im Artikel erwähnt wurde, las ich keine Silbe darüber, dass dort eine Menge Geld in den geplanten Otto-Dix-Tempel versenkt worden ist.
Drück der Stadt einfach diese Menge Geld in die Hand und schau, was sich am Klima und der Zukunftsfähigkeit ändern würde: gar nichts. Natürlich hat die Stadt ein massives finanzielles Problem und deshalb keinen Handlungsspielraum. Aber das Hauptproblem von Gera ist kein finanzielles, sondern ein Problem, das aus der Haltung der Menschen zur Welt erwächst. Und das ist mit keinem Geld dieser Welt zu beheben.
Warum sind die, die das Bild in Gera bestimmen und ständig meckern über die Stadt, denn alle noch hier, wenn es anderswo doch so viel besser ist? Weil sie anderswo keine Chance haben mit dieser ihrer Haltung zur Welt. Somit "reinigt" sich Gera Generation um Generation immer mehr, bis vermutlich nur noch der blanke Hass übrigbleibt. Das ist wie ein mehrstufiger Destillationsprozess: wer was kann, den treibt die Stadt einerseits weg, da sie nicht zu seinem Welt-Empfinden passt und der hat andererseits auch Chancen woanders. Die, die in der Stadt bleiben, erleben letztlich das, was in ihrem Weltbild vorherrscht und was sie damit unbewusst auch so etablieren.
pfiffikus hat geschrieben:
Und dabei sind noch nicht alle Stupiditäten der Gerschen Denkmalgötter öffentlichkeitswirksam geworden!
Wo blieb der Denkmalschutz, wenn man ihn brauchte? (Rundkonsum?)
Wenn ich mir das anschaue, was trotz dieser teils sehr ärgerlichen Fälle in Gera an bereits sanierter historischer Substanz besteht, sehe ich keinen Grund, es als Ursache für fehlende Zukunftsfähigkeit zu betrachten. Kein Großkonzern hätte bei Investitionen um Gera einen Bogen gemacht, weil der Rundkonsum (den ich genau wie den "Blumentempel" auf der anderen Seite der Eisenbahn sehr vermisse im Stadtbild) abgerissen wurde. Da genügt ein Blick auf in den 1960er Jahren planierte Stadtzentren mancher westdeutscher Mittel- oder Großstädte, hässlich bis zum Abwinken. Dennoch funktioniert es dort oft besser als in Gera. Da genügt der Blick auf den potthässlichen Wissenschaftscampus Berlin-Adlershof, in dem ich, wenn ich ihn nur mal mit dem Fahrrad kreuze, wegen der Trostlosigkeit der aneinandergereihten quaderförmigen Institute, Firmengebäude und Shoppingtempel instantan depressiv werde - dort baut man jetzt sogar teure Wohnungen zwischen die Wissenschaftsansiedlungen und es gibt Leute, die dorthin ziehen wollen, weil sie die wirtschaftliche und intellektuelle macht dort "sexy" finden.
Ein Aspekt ist allerdings nicht zu leugnen: man sorgt mit grandiosen "Glanzleistungen" der Stadtverwaltung (sei es nun der Abriss eines der Bevölkerung am Herzen liegenden Bauwerkes oder die Schändung eines Friedhofes durch nahezu Komplettrodung) für weiteren Frust bei den Menschen und damit für die "Stabilisierung" des "Geraer Weltbildes". Das machts noch grau(samer).
pfiffikus hat geschrieben:
Pfiffikus,
der es bedauert, dass dieselben Entscheider auf Grund der weiter bestehenden Kreisfreiheit weiter herrschen dürfen
Das wäre mal ein super Experiment. Einfach die Jenaer Stadtspitze nebst Verwaltung in Gera machen lassen. Jena läuft ja.
Oh, da wäre aber was los. Der Schröter und seine offen gegen Rechts und für Internationalität ausgerichteten Aktivitäten in Gera. Der bräuchte hier Personenschutz. Da würde der Volkszorn aber hochkochen. Die neuen Eintrittspreise im Hofwiesenbad (ne Stunde Schwimmen für 10 EUR) würden vermutlich auch kaum zu Schlangestehen der Geraer führen, in Jena stehen die devoten "Jena-über-alles"-Fans auch zu diesem Preis am GalaxSea an. Es gäbe alsbald keinen Busverkehr mehr nach Milbitz, Thieschitz, Rubitz, Ernsee, Hammelburg usw. - stattdessen ein Stunden vorher zu orderndes "Sammeltaxi" mit sattem Strafzuschlag. Dazu dann noch ein Dutzend Blitzersäulen in der Stadt verteilt. Hurra, da käme in Gera aber Freude auf! (Zur Erinnerung: ein wichtiges Wahlversprechen von Frau Hahn war ja, das Tempolimit auf der Siemensstraße aufzuheben - wohl vor allem dafür wurde sie gewählt, war zumindest mein Eindruck damals.)
Wir leben im Kapitalismus. Da geht alle Macht vom Kapital aus und es sucht sich immer den Weg, sich maximal zu vermehren. In Jena ist genau Potential dafür da, deshalb läuft der Laden. In Gera fehlt dieses Potential, deshalb läuft es da nicht. Die jeweils "regierende" Politik ist im Kapitalismus doch nur nachgeordnet, eine Schauinszenierung, um dem ganzen Treiben einen pseudodemokratischen Anstrich zu geben. Entziehe mal einer Regierung die Unterstützung des Kapitals - dann geht alles zugrunde. Ohne das, was das Kapital an Steuern abgeben muß, und ohne die Einspannung der arbeitenden bevölkerung in das verbindliche Korsett eines Arbeitsverhältnisses geht halt nichts. In Jena ist die - egal wie freundlich rotgrün sie auch angestrichen sein mag - Kommunalpolitik auf das Befriedigen der Bedürfnisse des Kapitals ausgerichtet. Nur wenn man es sich "gnädig" hält, hat man eine Überlebenschance. Das böse Erwachen über z.B. realgrüne Politik in dieser Stadt kommt für Zuzügler, die erstmals dort wählen dürfen, häufig erst später, wenn sie dann zuschauen können, wie die "Grünen" Beschlüsse mittragen, die das letzte Stadtgrün beseitigen etc. Da gab es viel Frust zu meiner Jenaer Zeit. Aber das Gesamtergebnis nach außen ist halt ein glänzendes - gemessen an der Werteskala des Kapitalismus.
In Gera geht vom Kapital kaum Macht aus, weil kaum Kapital in der Stadt ist. Wenig Industrie, vor allem wenig Industrie mit international bekanntem Namen. Und z.B. am "Wohnungsmarkt" ist nichts rauszupressen, da genug Leerstand immer Ausweichmöglichkeiten bietet. Wohnungswirtschaft ist in Jena Kapitalismus, in Gera ist es Barmherzigkeit. Einen Wohnungsbestand zu betreiben ist in Gera ungleich schwieriger als in Jena. Teils sind die Bestände aufgrund zeitgleicher Entwicklung und DDR-Blockbau ja sogar komplett vergleichbar, auch mit ihren Alterskrankheiten, Sanierungsbedarfen etc. Aber in Jena kann ich lässig 1 oder 2 EUR mehr je Quadratmeter nehmen - weil ichs kann, weils der "Markt" hergibt. Alleine mit 1 EUR mehr kann ein Unternehmen wie Jenawohnen sehr grob überschlagen ca. 10-12 Mio. EUR Mehreinnahmen je Jahr erzielen. Und das deckt sich mit dem, was real rauskommt (Jahresüberschuss Jenawohnen 2015 ca. 15 Mio. EUR). Daß es so bleibt, daß die Knappheit auf dem Wohnungsmarkt bleibt, daß die Attraktivität der Stadt so hoch bleibt, um keinen Leerstand entstehen zu lassen, ist natürlich Ziel des Kapitalismus'. Auch von dieser kommunalen Seite aus gibt es also für die Stadtverwaltung den Druck, alles auf Erfolgskurs zu halten.
In Gera kann man da keinen Hebel ansetzen. Die Kommunalpolitik verspürt deshalb von dem bißchen Kapital, was noch anwesend ist, auch kaum Druck, die Stadt wirtschaftlich erfolgreich zu führen und eine positive Außenwirkung zu erreichen (die Außenwirkung ist wichtig, auch in Jena ists viel Außenwirkung, gräbt man mal tiefer unter der Oberfläche, findet man viel Frust wegen Mieten, Parkplatzmangel, hohen Preisen in städtischen Einrichtungen etc.). In Gera dient die Stadtpolitik also nicht wie im Kapitalismus normalerweise üblich dem erfolgreichen Wirtschaften, sondern kann sich in gegenseitig-den-Schädel-einhauen ergehen, also in Befindlichkeiten und politischen Schaukämpfen, trotziger Blockiererei etc. Entsprechend verheerend ist die Außenwirkung. Wer will da schon investieren?
Ein System im stabilen Gleichgewicht zu halten (man weiß, wie es stabil funktioniert und muß sehen, die Bedingungen so zu balancieren, daß das auch weiterhin der Fall sein wird) ist natürlich auch leichter, als ein System aus einem anderen stabilen Gleichgewicht (dem Gerader "Sumpf") herauszuholen und dorthin zu bringen, wo sich das erstgenannte System befindet. Daß es dabei zum Streit über den Weg kommt, ist völlig klar - es ist ja kein Weg zu erkennen, der direkt zum Ziel führt. Entsprechend sind die ständig wechselnden unbeholfen wirkenden Ansätze in Gera, von Einkaufsstadt über Dix-Stadt bis sonstwohin zu erklären. Ich bin kein Sozialforscher, kein Gesellschafts-Experte und kein Politiker. Ich bin Physiker und Techniker. Aber selbst mit meinem "mechanischen" Weltbild ist mir das sehr verständlich. Wenn ich ein Großlabor habe, mit dem ich einen Natur-Effekt gut messen kann und die messung weiter optimieren möchte ausgehend vom derzeitigen Stand, ist das deutlich leichter als wenn ich nichtmal weiß, wie ich diesen Natur-Effekt überhaupt messtechnisch "einfangen" könnte oder - schlimmer noch - welchen Effekt ich überhaupt messen möchte. Das ist der Unterschied zwischen Geraer und Jenaer Kommunalpolitik.
Nur damit kein falsches Bild von mir aufkommt: mir ist sehr klar, daß das kapitalistische System, wie wir es in z.B. Jena als funktionierend wahrnehmen, vor extremen Umbrüchen steht bzw. schon mittendrin ist. Eine Kopie dessen, was in Jena 25 Jahre lang gut funktionierte, wäre deshalb auch keine Garantie für ein Aufblühen in Gera. Und Städte wie Jena müssen sehen, wie sie in der Postwachstumsgesellschaft, zu der wir naturgesetzlich gezwungen werden, weiterhin gut klarkommen werden. Da werden viele Steine nicht aufeinander bleiben in den kommenden 25 Jahren. Auch Jena mußte shcon einiges hinnehmen: das Ende der großfressigen kometenhaften Startes einer gewissen Intershop, das Ende von Schott Displayglas, das Ende von Schott Solar und Schott Solar Wafer. Die Stadt fängt auch nicht alles dabei ab. Viele ziehen weiter, schon wegen der Knappheit am Wohnungsmarkt. Die besten von Schott Solar Wafer sind längst wieder in Dresden oder in Westdeutschland. Nur die regional verankerten Leute bleiben oft vor Ort und finden wieder was neues in der Region.
So, jetzt muß ich aber erstmal frühstücken.