Untermhäuser Forum

Plaudereien im Dunstkreis von Untermhaus
Stammtischtermine
Aktuelle Zeit: Sa 27.Apr 2024 19:51

Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde [ Sommerzeit ]




Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 8 Beiträge ] 
Autor Nachricht
BeitragVerfasst: Di 18.Okt 2016 15:22 
Offline
Dauerbrenner
Dauerbrenner

Registriert: Fr 14.Mär 2003 12:34
Barvermögen:
105,95 Groschen

Beiträge: 441
Wohnort: Gera Debschwitz
Diese sehr schöne Seite habe ich über Facebook gefunden.

https://www.buzzfeed.com/maximilianzend ... .ojKJd3qa1

Da gibt es auch ein Foto von einer "pfiffigen" Sonnenuhr.


Nach oben
 Profil  
 
BeitragVerfasst: Mi 19.Okt 2016 11:20 
Offline
Foren-Ass
Foren-Ass

Registriert: Di 03.Jun 2008 14:26
Barvermögen:
1.999,12 Groschen

Beiträge: 829
Danke, sehr schön! Im ersten Moment bekam ich angesichts der Überschrift zwar Herzrasen, aber das wich alsbald einem Lächeln. Ein bißchen Untermhaus/Mohrenplatz-lastig, aber klar, ist ne schöne Ecke. Man hättte noch viel mehr ablichten können, aus ganz Gera. Kalte Eiche, Villa Schulenburg (und zig andere Villen), Hofwiesenbad von innen, Höhler, KuK von innen ("Lied des Lebens", Saal), Kino Metropol.

Einen Grund, mich in Gera unwohl zu fühlen, habe ich aber dennoch, und der hat nichts mit Landschaft, Architektur, Zustand von Gebäuden, Straßen und Plätzen etc. zu tun - und auch nichts mit dem Fehlen der Zentralen weltweit bekannter Konzerne oder dem Fehlen von Saturn und MediaMarkt. Es ist das menschliche Klima in der Stadt. Das nehme ich oft (nicht immer!) als grau wie Beton wahr. Grau und grausam. "Menschen, die sich ihre Würde nehmen lassen haben" ist mir letztens spontan als Beschreibung eingefallen, als ich mal wieder in der Innenstadt war. Und wer seine eigene Würde verloren hat, wer die Achtung vor sich selbst verloren hat, der kann auch andere Menschen nicht mehr achten. Ich weiß, es gibt auch in Gera viele andere. Sie sind vorhanden, aber sie gehen oft unter im grausamen Grau der Masse.

Da ist nichts zu fühlen von der liebevollen Energie und Leichtigkeit, die man bei Menschen fühlen kann, die sich ihrer Bedeutung für eine gute Zukunft des Planeten und der Menschheit bewußt sind. Ich habe solche Menschen erlebt, mehrmals in "Hochdosis" und das kickt besser als jeder Energy Drink. Wer nicht weiß, was ich meine, einfach mal Tomorrow - Demain anschauen. In den kleinen Pogrammkinos ist er wohl durch, aber er kommt als BluRay wohl diese Tage raus. Alternativ kostenlos z.B. [utl=https://www.youtube.com/watch?v=FFQFBmq7X84]den hier[/url]. In beide Filmen sieht man querbeet von wohlhabenden Industriestaaten bis zu wirklich armen Gegenden nur schöne Menschen (und teils die gleichen, die Filme sind miteinander "verwandt"). Schönheit und Liebe sind in sehr weiten Bereichen völlig unabhängig vom vermeintlichen "Lebensstandard", sondern nur abhängig von der eigenen Haltung, also von der Frage, ob ich mich wertzuschätzen bereit bin oder nicht.

Ich sehe hier den größten Standortnachteil Geras: das graue, hämische, abwertende, lebensverachtende, lieblose Klima, das sich wie eine Glocke über die Stadt legt und nichtmal ein Produkt der Nachwendezeit ist, denn ich kenne es schon, eit ich mich erinnern kann, also ca. 1980. Es ist nicht das Fehlen von Zeiss oder Fraunhofer, es ist nicht das Fehlen eines MediaMarkt, es sind auch keine Schlaglöcher in manchen Straßen und keine Bauverzögerungen beim Aufbringen der neuen Teerdecke auf eine Anliegerstraße. Das sind Probleme, für die haben andere Menschen gar keine Zeit, weil sie entweder mit echten Problemen beschäftigt sind (= Frage des Überlebens) oder weil sie ihre Lebenszeit in die Erschaffung von Schönheit und Heilung investieren, wie in obigen Filmen.

Dieser Standortnachteil Geras hat aber auch eine gute Seite: er braucht zur Beseitigung keine Finanzspritze vom Land, die nicht kommt und hinter deren Ausbleiben man sich verstecken kann. Er kann aus eigener Kraft überwunden werden und ist deshalb auch real überwindbar. Die Mehrheit in Gera muß sich bloß dafür entscheiden. Dann könnte Gera viele gute Seiten endlich perfekt ausspielen, ohne daß etwas, das alles davon wertlos machen kann, dazwischenfunkt.


Nach oben
 Profil  
 
BeitragVerfasst: Mi 19.Okt 2016 12:15 
Offline
Lebende Forenlegende
Lebende Forenlegende

Registriert: Fr 18.Sep 2015 23:11
Barvermögen:
1.224,30 Groschen

Beiträge: 1303
Ja aber woher und warum kommt das denn - dieses schlechte Klima?


Nach oben
 Profil  
 
BeitragVerfasst: Mi 19.Okt 2016 17:20 
Offline
Foren-UHU
Foren-UHU

Registriert: Mi 05.Mär 2003 14:56
Barvermögen:
18.462,20 Groschen

Beiträge: 8837
Wohnort: Gera
Das hat wohl vielfältige Ursachen, und die meisten entstanden m.E. doch erst nach der Wende, auch wenn radiowaves das etwas anders sieht. Bis 1990 war Gera wirtschaftlich durchaus stark, denken wir an Wismut, Zeiss, Elektronik, Modedruck, Wema und vieles mehr. Es wurde gut verdient, Neubauten entstanden, die Stadt war voller junger Leute (denen durchaus auch etwas geboten wurde), das Durchschnittsalter deutlich niedriger als heute. Mit der Wende und der daraus resultierenden Deindustrialisierung fielen ...zigtausende Arbeitsplätze weg, zerbrachen viele Erwerbsbiographien. Für viele Leute gab es keine Perspektive mehr in der Stadt, und wer jung, etwas flexibel und nicht gerade ein Penner war, ging eben weg, um anderswo sein Glück zu suchen und oft auch zu finden (ich sehe es ganz deutlich bei meiner Tochter). Zurück blieben die Alten, die Mutlosen und die, die gerade noch über die Runden kamen.
Gepaart war und ist diese Entwicklung mit gravierenden Fehlern bei der Neuausrichtung der Stadt nach 1989. Wir erinnern uns, der damalige OB Galley wollte aus Gera eine Dienstleistungsstadt machen und vergaß dabei offenbar, dass Dienstleistungen auch bezahlt werden wollen und es daher auch guter und sicherer Einkommen bedarf. Diese Entwicklung setzte sich leider fort und hält im großen und ganzen bis heute an.
Unsägliches Parteiengezänk im Stadtrat, persönliche Befindlichkeiten und Animositäten gehen über das Gemeinwohl. Dazu kommt eine Stadtverwaltung, die angetreten scheint, dem Ger`schen Bürger die letzte Rupie aus der Tasche zu ziehen, die blockiert, mauert, Stadtratsbeschlüsse ignoriert und sich eigentlich nur selbst verwaltet. Beispiele gefällig? Wegfall der "Flammenden Sterne", da man den Veranstalter mit schier endlosen und kaum zu erfüllenden Auflagen überzog; Wegfall der "Schwarzbiernacht", Begründung: siehe oben. Wenn ein innenstädtischer Wirt oder Händler einen schönen Blumenkübel vor seinen Laden stellt, wird er sofort mit saftigen Gebühren überzogen, auf das ihm die Lust an so etwas vergehe.
Leute, ich könnte noch seitenweise so weiterschreiben! Natürlich darf man das Ganze nicht losgelöst vom System, in dem wir jetzt leben, sehen. Aber in dieser Stadt fehlt es leider schon von der Verwaltung her an gutem Willen (sich hinter saublöden Paragraphen zu verstecken ist einfacher), und die Frau Oberbürgermeisterin, die ich durchaus schätze, kann sich mit Verlaub gesagt den Arsch bis zur Halskrause aufreißen, gegen diesen defätistischen Moloch im Rathaus kommt sie nicht an.
Ist es dann ein Wunder, wenn viele Bürger resigniert und sich ins Private zurückgezogen haben?
Wenn man wie ich in Gera geboren ist und mehr als 6 Jahrzehnte in dieser Stadt gelebt hat, unter welchem politischen System auch immer, kann man durchaus mitreden. Aber unsere Ansichten will halt keiner von "oben" wissen und so lässt man es dann irgendwann sein.
Es ist schade, dass diese Stadt derart verkommen ist, aber es wird sich auf absehbare Zeit wohl nichts ändern. Ich hatte mal gedacht, dass eine junge, progressive Generation etwas bewegen kann und will, aber diese Generation glotzt leider nur aufs Schmierhandy und kümmert sich ansonsten einen Scheiß um die Stadt.
Fazit: Optimismus für Gera habe ich nicht mehr, und wenn ich es mir leisten könnte, ginge auch ich auf Nimmerwiedersehen.


Nach oben
 Profil  
 
BeitragVerfasst: Do 20.Okt 2016 12:15 
Offline
Lebende Forenlegende
Lebende Forenlegende

Registriert: Fr 18.Sep 2015 23:11
Barvermögen:
1.224,30 Groschen

Beiträge: 1303
Danke für die ausführliche Antwort. Vielleicht sagt uns Radiowaves noch warum er meint es geht schon seit Anfang der 80er "abwärts" .

Die Stadtverwaltung scheint bei Euch wirklich manchmal komisch drauf zu sein.

Ansonsten habe ich als Außenstehende immer nur gutes von Gera im Kopf, aber da zu wohnen ist wohl noch mal anders.

Ich finde zb immer die Verkäuferinnen viel netter als hier in Jena und alle Menschen sind mehr zum Plausch aufgelegt, ihr habt dann irgendwie noch mehr Zeit oder nehmt sie Euch, das ist hier in Jena alles viel hektischer.

Mir fehlt halt oft der Optimismus, das mal jemand was anpackt, sich was traut und nicht immer nur gejammert wird. Es gibt schon viele nette Ideen in Gera auch von jungen Leuten die das umsetzen - siehe Songtage (ok die kommen aus Leipzig ;) ) , es gibt einiges Kreatives, da hinten der Steinweg entwickelt sich doch recht gut ... die Facebookgruppe ist recht aktiv - da wird zwar das Smartphone glühen, aber die geben sich da immer recht gute Tipps und helfen sich auch gegenseitig.

Es ist nicht alles schlecht, man muß es nur erkennen und darf nicht aufgeben :)


Nach oben
 Profil  
 
BeitragVerfasst: Do 20.Okt 2016 14:03 
Offline
Foren-Ass
Foren-Ass

Registriert: Di 03.Jun 2008 14:26
Barvermögen:
1.999,12 Groschen

Beiträge: 829
Ich hatte gestern Abend noch begonnen, was zu schreiben, mir fielen gegen 2 Uhr dann aber die Augen zu. Ich antworte noch etwas, versprochen.

Erstmal nur kurz @watson eine These von mir:

Die Stadtverwaltung in Jena ist auch "manchmal komisch drauf". Wenn sogenannte "Grüne" das Stadtgrün vernichten bzw. seine Vernichtung billigen, weils ums Großkapital geht, halte ich das auch für oberschräg.

Wir leben im Kapitalismus. Da geht - das ist keine neue Erkenntnis - alle Macht vom Kapital aus. Politik ist da letztlich nur Marionette, mal mehr, mal weniger gut als solche versteckt. In Jena ist Kapital, das bestimmt den Puls und den Weg der Stadt. Die Politik hat sich dem unterzuordnen und gehorcht - das Volk hatte einmal leichtfertig (?) die Chance erhalten, selbst etwas zu entscheiden und hat entsprechend mit der Eichplatz-Abstimmung der Stadt eine Klatsche verpasst. In Jena gibt es ansonsten nur ein Ziel: Gewinnmaximierung auf allen Ebenen. Diesem kapitalistischen Diktat hat sich alles zu unterwerfen und das funktioniert erstaunlich "reibungslos".

In Gera gibt es dieses mächtige Kapital nicht. Damit fehlt die straffe Führung durch selbiges und die Stadtpolitik tritt mit ihren eigenen Aktivitäten an diese Stelle. Das sieht dann halt völlig anders aus, 10 Leute, 20 Meinungen und die reale Macht haben die Finanztropfverwalter in Erfurt, so bleibt in Gera halt nur das irrelevante Kasperletheater. In Jena sinds eher 10 Leute, eine Meinung -> Gewinnmaximierung. Und in Jena kann man die Daumenschrauben auf allen Ebenen anziehen, weil mans halt kann. Jena ist ein "Markenprodukt", Markenprodukte kosten unabhängig von ihrer Qualität immer mehr Geld. Und Markennamen vernebeln Hirne.

Läßt sich damit irgendwas erklären?

Was die Nettigkeit in Gera angeht: wohl so wie überall - mal so, mal so. Habe übel unfreundliche und wunderbar freundliche Menschen kennengelernt und lerne sie auch noch kennen. Dennoch fällt allen, die ich erstmals durch Gera führte (und da zeige ich die Schokoladenseiten"), ein völlig anderes Stadtbild auf. Eines, das auf "Würde abgegeben" bzw. "Würde verloren" hindeutet. Die Leute sagen das dann auch. Wie im vergangenen Frühjahr: war mit einer 39-jährigen Ärztin und ihrer 4-jährigen Tochter unterwegs in der Stadt und im Tierpark. Örtlich gefällt ihr da sehr viel, aber irgendwann sagte die Frau sinngemäß zu mir, das ist doch gruselig, diese ganzen gepiercten und tättowierten, rauchenden Eltern. Diese martialisch und dumpf aussehenden Männer. Dieses Gekeife. Diese Nicht-Befassung mit den Kindern (außer zum Rufen und Schimpfen und Dranrumzerren). Diese fehlende Wissens-Vermittlung an die Kinder, diese elterliche Ignoranz der kindlichen Neugier gegenüber.

Ein Jahr vorher waren wir mit den Fahrrädern und der Kleinen im Anhänger mal Gera - Wünschendorf - Berga gefahren inkl. Märchenwald. Sie fanden es super da, aber auf der Rückfahrt mit der Bahn hatten wir eine junge Mutter aus Gera mit ihrem etwa 2-3-jährigen Sohn im Zug. Der Junge saß fest angeschnallt im Kinderwagen und die Mutter interessierte sich nen Scheißdreck für ihn. Sie hatte stattdessen mit ihrem Schmierfohn zu tun und Kopfhörer ("Schmalzbohrer") drin. Die Sprachentwicklung des Kindes war weit, weit verzögert. Es konnte nur plärren und schreien, aber nichts sagen. Es konnte schon gleich gar nicht der Mutter eine SMS schreiben, daß sie sich gefälligst mal um ihn kümmern solle, nur so wäre sie wohl erreichbar gewesen. Die Frau wirkte wie abwesend, das Kind wie Ballast. Wir hatten derweil zur Überbrückung der Wartezeit auf dem Bahnhof ein tolles Buch dabei für die Tochter meiner Freundin. Langeweile kam keine auf und heute kennt sie alle relevanten Tiere, die einem beim Thema "Afrika" einfallen. Natürlich ist das eine krasse Erfahrung, aber ich nehme Dinge in diese Richtung recht häufig im Geraer Straßenbild wahr. Dann muß ich mich auch nicht über niedrige Gymasiums-Empfehlungsraten wundern. Und so etwas ist vermeidbar. Ohne irgendwelche staatliche Förderung, ohne zusätzliche Gelder.

Und ich kenne das aus Jena (Zentrum, ich wills mal eingrenzen, in Lobeda und Winzerla kenne ich mich nicht mehr aus, kann nichts dazu sagen) auch völlig anders. Die Kinder dort wirken oft wie aus gutbürgerlichem Haus von vor 100 Jahren, was ich nicht negativ meine, sondern als Zeichen von Kultur und intellektueller Substanz. Die Eltern wirken zumindest oft "bodenständiger" und naturnäher als in Gera. Man merkt das schon an der Kleidung, die eher aus dem Outdoorladen stammt als aus einem grellpinken neonbeleuchteten chromglitzernden Lifestyle-Shoppingtempel. Man merkt das am Fehlen aufgeklebter Kunst-Fingernägel und an natürlicher Gesichtsfarbe.

Ich habe auch noch den Vergleich zu Ostberlin, Schöneweide und drumherum. Da gibt es ein Einkaufszentrum direkt am S-Bahnhof, sowas wie Gera-Arcaden light. Und da sieht es eher aus wie in Gera und nicht wie in Jena. Es ist also nicht überall so wie in Jena. Vielleicht ist Jena eine Ausnahme im Osten und wir dürfen nicht vergleichen.


Rest später, vermutlich wieder sehr spät.


Nach oben
 Profil  
 
BeitragVerfasst: Fr 21.Okt 2016 12:40 
Offline
Lebende Forenlegende
Lebende Forenlegende

Registriert: Fr 18.Sep 2015 23:11
Barvermögen:
1.224,30 Groschen

Beiträge: 1303
Stimmt unseren grünen Stadtentwickler habe ich wieder völlig vergessen :facepalm:

Und das mit den Tatoos ist mir auch schon aufgefallen, aber so ganz ohne geht's in Jena auch nicht.

Zitat:
Vielleicht ist Jena eine Ausnahme im Osten und wir dürfen nicht vergleichen.



Wahrscheinlich. Es liegt auch viel an der Uni und den ganzen Wissenschaftlern. Es ging mir aber nicht so um das Aussehen der Leute, sondern um ihren Missmut. Man kann auch nicht alle Leute über einen Kamm scheren, das wenn sie bei K*K einkaufen gehen, ihre Kinder schlecht behandeln. Weil man kann auch mit wenig Geld gut zu seinen Kindern sein und sich mit ihnen beschäftigen. Und ich denke da gibt es genug positive Beispiele, die Lauten und Schlechten fallen halt immer nur auf.


Nach oben
 Profil  
 
BeitragVerfasst: Sa 22.Okt 2016 22:40 
Offline
Foren-Ass
Foren-Ass

Registriert: Di 03.Jun 2008 14:26
Barvermögen:
1.999,12 Groschen

Beiträge: 829
watson hat geschrieben:
Es ging mir aber nicht so um das Aussehen der Leute, sondern um ihren Missmut.


Ok, wir geben eine neue Parole aus: Wismut statt Missmut.

Scherz beiseite.

Das Aussehen korreliert leider häufig mit dem Innenleben. Und nein, damit meine ich nicht die Herkunft von Kleidung dergestalt, daß sie aus teuren Edelboutiquen kommen oder durchgestylt sein muß, um als "angenehm" durchzugehen. Im Gegenteil. Es mag an mir und meiner ganz speziellen Wahrnehmung liegen, aber meine bisherige Lebenserfahrung sagt mir, daß eher gilt: je lifestyliger und "edler" die Kleidung, umso weniger Inhalt. Je mehr Make-Up, umso weniger dahinter. Die Leute, mit denen ich die allerbesten Erfahrungen gemacht habe, auch was geistig-kulturelles Niveau, Bodenständigkeit und Eignung für eine zukunftsfähige Gesellschaft betrifft, waren nicht von angesagten Edel- oder Lifestyle-Marken ausgestattet, sondern eher so das Publikum, was man auf Biobauernhöfen findet.
Auf "meinem Berg" in der Schweiz war mal eine Volontärin, die sich schminkte und eher wie "Großstädterin vorm abendlichen Szeneausgang" wirkte. Das war die krasse Ausnahme, das fiel wirklich auf, weil sonst niemand dort auf die Idee käme, seine natürliche Schönheit zu verkleistern. (Die Frau war voll ok, aber es war schade, daß sie sich so verunstaltete.)

Zur Abwechslung mal was schönes: ich hatte gestern noch was im Elster-Forum zu besorgen, fuhr mit dem Rad dorthin und stellte das Rad wie immer hinter dem Fahrradständer ab, weil man es dort gut am Rahmen anschließen kann. Da bemerkte ich zwei Kinder, offenbar Geschwister, vielleicht 8 und 11 oder so. Sie hatten ihre Räder dabei und versuchten, sie auf "offiziellem" Wege anzuketten, was freilich scheiterte, da das so ein dämlicher Speichenkiller-Fahrradständer ist, bei dem man nur das Vorderrad anschließen kann. Ich merkte, daß die Kinder selbst nicht glücklich waren mit dieser Lösung und riet ihnen, es mir gleich zu tun und die Räder hinter dem Fahrradständer anzuschließen. Das taten sie dann auch, beide waren absolut natürlich, offen, freundlich, kommunikativ, intelligent und intakt. Mir hat das fühlbar gutgetan und mir für die nächsten 10 Minuten richtig gute Energie gegeben. Es ist also noch nicht alles verloren.


Als Nachtrag zur vorgestern (sorry, mein Kopf ist derzeit so voll und leider meist mit unerfreulichen Themen):

@archivar hat ja schon (fast) alles aufgeschrieben, was es zur aktuellen Situation zu sagen gäbe. Das trifft sicher auch alles zu (in manchen Dingen stecke ich nicht so tief drin), aber ich behaupte: das ist bereits zumindest zu einem Teil Ursache und nicht Folge / Wirkung.

Ich versuchs mal zu erklären.

Es war um 2003-2004, als ich zutiefst frustriert war, keine Freundin zu haben. Ich versuchte, mich darüber mit einem psychisch sehr stabilen Freund (Unternehmer, hat sich tatsächlich eine Art "Imperium" aufgebaut, ist einer der besten und umtriebigsten Yogalehrer und heilkundlichen Psychotherapeuten des Landes) zu unterhalten, bemerkte aber zunehmend Unwillen bei ihm, mir zuzuhören. Irgendwann sagte er, ich kann dir ganz klar sagen, warum du alleine bist: weil du dich beklagst. Und niemand mag seine kostbare Lebenszeit mit jemandem teilen, der sich dauernd beklagt und übellaunig ist. Ich entgegnete darauf, daß ich einen sehr klaren und berechtigten Grund habe, übellaunig zu sein und mich zu beklagen: ich habe keine Partnerin. Darauf er wieder "nein, du hast keine Partnerin, weil du dich beklagst". Damit war das Gespräch dann auch beendet, denn er hatte keine Lust mehr darauf.

Ich blieb alleine und war 3 Jahre beruflich aus Jena weg. Dann ergab sich ein erneuter Ortswechsel zurück und ich lernte im Yoga-Kurs bei genau diesem Yoga-Lehrer eine Frau kennen. Also ich sah sie und hatte schlagartig die Gewissheit: "die ist es!". Und ja, sie ist bis heute die einzige Frau, die ich je kennenlernte, mit der ich eine seelische Verbindung fühlte und fühle. Sie ist bislang die einzige Frau, mit der ich eine Parterschaft wenigstens hätte versuchen wollen.

Diese Frau lehnte mich ab und hatte panische Angst vor mir, die sich steigerte, als ich ihr ein Jahr später sagte, daß ich sie mag.

Ich blieb in dem Abstand, den sie brauchte, ihr dennoch liebevoll verbunden und mit der Zeit kam ein kleinwenig Kontakt zustande, weil ich so ausdauernd geblieben war. Die Frau erklärte mir dann, warum wir nicht zusammenpassen würden. Grund 1: sie hatte Angst vor mir, weil ich Physiker war und Physiker / Techniker / Informatiker ihr allgemein als unfähig zu liebevollem Kontakt und unfähig zu Empathie in Erinnerung waren. Grund 2: sie empfand mich als übellaunig (sie nannte es später "Miesmuschel") und als unzufrieden mit meinem Leben wirkend. Und das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen, sie war und ist mit dem eigenen Überleben beschäftigt.

Derweil hatte sie schon eine Fernbeziehung begonnen, aus der inzwischen eine Ehe und 2 weitere Kinder hervorgegangen sind.

Wir sind heute Freunde, aber ich werde zeitlebens Single bleiben. Ich habe mir meine Chance auf eine eigene liebevolle Familie u.a. dadurch verspielt, daß ich aufgrund meiner von mir als unbefriedigend empfundenen Situation übellaunig war und mich beklagt habe. Die Situation wird deshalb nun dauerhaft bestehen bleiben, nur das Übellaunige habe ich mir weitgehend abgewöhnt.


Und so sehe ich das auch im Falle von Gera. Der von Dir so genannte "Missmut" ist Standortnachteil. Er mag teils auch Folge bestimmter Dinge und Entwicklungen sein, aber vor allem fungiert er als Standortnachteil, als Grund, Gera zu meiden.

Wenn ich in meinen Jenaer Zeiten Menschen, die von anderswoher kamen, um bei uns zu arbeiten und die in Jena keine Wohnung fanden, auf Gera hinwies, war ein Image immer schon vorher da und ich wurde informiert, daß Gera nicht in Frage käme, weil die Stimmung in der Stadt so schlecht, weil die Menschen so grau und unfreundlich wären. Letztlich: daß Gera schlecht für die eigene Entwicklung ist, daß einem dann was Nachteiliges anhaftet. Das war einer der Gründe. Klar, es gibt auch andere (Kneipen-Liebhaber suchen auch lieber monatelang in Jena nach einer Unterkunft, aber bitte fußläufig zur Wagnergasse), aber das Image, das Gera anlastet, war vor allem die Ödnis einer grauen, gefrusteten Stadt.

Und damit wird es wohl für immer so bleiben müssen. Es sei denn, ein relevanter Anteil der Geraer Bevölkerung entscheidet sich, den äußeren Umständen zum Trotz dennoch ein progressives, lebensbejaendes Bild abgeben zu wollen.


Schaue ich zurück, fällt mir immer wieder mal etwas auf, das darauf hindeutet, daß das keine Entwicklung der Nachwendezeit sein kann, sondern zumindest Grundlagen davon vorher schon da waren:

Meine Großmutter hat spielende Kinder vor unserem Haus vertrieben. Sie dürften da nicht spielen, sie wohnen schließlich auch nicht da. "Willkommenskultur" wurde also schon um 1980 zumindest hier vorm Haus in Untermhaus großgeschrieben.

Vor eineinhalb Jahren lernte ich eine Frau kennen, die Anfang der 1980er Jahre in Leipzig was technisches studiert hat. Sie hatte damals mit 2 andere Frauen engeren Kontakt, eine aus Jena, eine aus Gera. Die Jenaerin war vom Wesen her optimistisch, die Geraerin pessimistisch bis ätzend. Das war ihr so in Erinnerung geblieben, daß sie es mir gleich berichtete, als die Stichworte "Gera" und "Jena" gefallen waren.

Im Sommer 1989 (also auch noch DDR) lief ich mit 3 Schulfreunden eines Morgens die Schafwiesenstraße vor. Die 3 hatten nach der Geburtstagsparty einer Mitschülerin bei mir übernachtet. Wir waren guter Laune und lachten über ein damals überaus dämlich kreuz und quer über die Straße gespanntes Telefonkabel (für dessen Leitungsführung die Anwohner freilich nichts konnten, die waren froh, auf diesem Wege einen "halben" Anschluß bekommen zu haben). Da flog ein Fenster auf und eine Frau bellte uns an, wir hätten hier gefälligst nichts zu lachen. Meine 3 Freunde (alle nicht aus Gera) waren heftig erschrocken. Sowas geht hier ab in unmittelbarer Nachbarschaft?

Klar, alles Einzelfälle, aber das ist von der Grundstimmung her letztlich auch das, was mir als bestimmend zu "Gera" einfällt. Sensible Menschen, die intaktes Bürgertum mit Bewusstsein für die Gemeinschaft vielleicht aus ihrer Heimat kennen, nehmen so etwas auch wahr und meiden die Stadt.

Ich muß zugeben, vor allem aus den letzten Jahren ähnliche Klagen aus Jena zu vernehmen: aggressive, übellaunige Zeitgenossen, die offenbar vor allem deshalb herummotzen, weil sie annehmen, aufgrund ihrer hohen Lebenshaltungskosten in der überteuerten Lifestyle-Stadt hätten sie eine Art "Vorrecht auf Vorfahrt" und wären besonders wichtig und also bevorzugt zu behandeln. Dennoch schlägt das bislang nicht auf die im Mainstream vorherrschende Meinung über Jena durch.

Im Falle von Gera kann ich mir noch folgendes vorstellen: Gera war per Definition wichtig zu DDR-Zeiten, denn es war zur Bezirksstadt gemacht worden. Ich kenne den genauen Grund nicht, vermute aber, daß Gera gegenüber Jena den Vorzug bekam, weil Gera eine traditionelle Arbeiterstadt war, während Jena bereits damals schon eher eine Akademiker-Stadt war. Und die DDR verstand sich offiziell ja nicht als Akademiker-Diktatur, sondern als Arbeiter-und-Bauern-Staat. Vielleicht hat dieses Wissen darum, daß man eigentlich nur wegen "der Bonzen" wichtig war, und die eigentlich tief verwurzelte Ablehnung dieser Bonzen dazu geführt, daß die Stimmung in Gera so komisch ist? Oder - so man zur Polit-Elite gehörte - das Wissen, daß die eigene Wichtigkeit nur per Verordnung galt, real mit nichts unterfüttert war und man von der Bevölkerungsmehrheit nicht allzusehr gemocht wurde. Das sind nur Thesen, sie müßten erforscht werden.


Ein anderer Grund der Ablehnung von Gera, der mir genannt wurde, ist noch heftiger als die Missmutigkeit: wer in Jena Kinder hatte, wollte teils auch seine Kinder nicht mit Geraer Kindern zusammen in der Kita oder in der Schule haben, weil Nachteile bei der Entwicklung befürchtet wurden. Und das waren wohlgemerkt keine Jenenser, denen man evtl. eine alte Gera-Abneigung hätte unterstellen können, sondern Zuzüge, teils mit Ost-, teils mit West-Sozialisation. Das ist dann schon krass, da schluckt man dann schon. Ich kenne auch Schilderungen derart, daß Familien extra nach Jena zogen, damit "Jena" in der Geburtsurkunde des Kindes steht. Man erhofft sich dadurch Vorteile fürs Kind.

Und nun fand man ja letztens dieses hier heraus: http://www.mdr.de/exakt/eslw-bildungschancen-100.html - und dann sieht das ganze schon klarer aus und man versteht, wovor man sich fürchtet. "Jena" ist auch nicht homogen, sondern klar in teure zentrale Wohngegenden und die Schlafstädte am Rand getrennt. Die Zahlen für Erfurt und Gera stehen auch gleich mit dabei. Im Klartext: in gesamt-Jena 53,1% der künftigen Fünftklässler mit Gymnasialempfehlung, in Gera nur 34%. Da Kinder nicht nach ihrem Geburtsort fähig oder unfähig geboren werden, muß hier nach der Geburt was schiefgehen. Nicht bei allen, aber doch bei so vielen in Gera mehr als in Jena, daß es statistisch sehr, sehr signifikant wird. Natürlich auch anderswo und nicht nur in Gera, aber eben auch in Gera. Sind die Lehrer in Gera so streng? Vermutlich nicht, hier kann nur weniger Substanz bei den Schülern die Ursache sein, verursacht durch das Gefühl des ohnehin-Abgeschrieben-Seins oder des Fehlens jeglicher intellektueller Anreize im Elternhaus, was wiederum vom dortigen Gefühl des ohnehin-Abgeschrieben-Seins verursacht sein kann.

Ich würde ja beinahe sagen wollen, eine typische Jenaer "Kinder-Laufbahn" heißt, das Kind hat naturwissenschaftliche Vorschulbildung, überspringt in der Grundschule einen Jahrgang, kommt dann an die Zeiss-Spezialschule, macht sein Informatik-, Mathe- oder Physikdiplom bis auf die fehlende Prüfung während der Schulzeit "nebenbei" fertig, diplomiert (ok, gemäß Bolognese heißen die Abschlüsse heute ja anders), sobald das Abitur (eine Formsache) abgelegt ist und beginnt im Alter von 18 Jahren direkt mit der Promotion, um mit 23 Professor zu sein. Natürlich ist das keine typische Laufbahn, aber solche Fälle gab und gibt es. Und was ich in einer Jenaer Schule, in deren Aula wir im Februar eine Veranstaltung hatten, so an Wandzeitungen und Aushängen zu sehen bekam, zeigte mir: Zukunftsfähigkeit wohnt genau dort. Man ist sich dort offenbar bewußt, was wichtig ist in einer sich rasant verändernden und immer mehr zusammenrückenden Welt. Das Kontrastprogramm dazu hat die ZEIT vergangenen Sommer aus Gera berichtet. Zum Glück gibt es aber auch in Gera Lichtblicke, wie z.B. die musischen Aktivitäten am Rutheneum. Das hat Jena in dieser Form nicht zu bieten.

archivar hat geschrieben:
Bis 1990 war Gera wirtschaftlich durchaus stark, denken wir an Wismut, Zeiss, Elektronik, Modedruck, Wema und vieles mehr. Es wurde gut verdient, Neubauten entstanden, die Stadt war voller junger Leute (denen durchaus auch etwas geboten wurde), das Durchschnittsalter deutlich niedriger als heute.


Dabei fällt aber auf, daß fast alle diese Unternehmen "Industrie 1.0" waren, also eher Überbleibsel aus der "Eisenzeit". Ausnahme: Zeiss und Teile von Elektronik Gera. Die westliche Welt war aber bereits auf dem Weg in die "Silizium-Zeit", so daß es leider völlig zwingend war, daß das meiste auf der Strecke blieb - genau wie in NRW. Nicht unter den Tisch kehren sollten wir allerdings, daß Elektronik Gera immerhin so gut gerettet wurde, dank Herrn Holbe. Natürlich ist auch das nur ein Bruchteil der einstigen Mitarbeiterzahl, aber das ist ein großer Brocken. Wäre auch in Jenaer Dimensionen ein großer Brocken.

In Jena war die industrielle Vorgeschichte anders, man hatte dank einer grandiosen Weimarer Fehlentscheidung irgendwann eine Ansiedlung eines gewissen Carl Zeiss, der Rest ist Geschichte. Zeissianer waren immer schon ein ganz eigenes, stolzes Volk, das dürfte in Jena dabei geholfen haben, den Kopf oben zu behalten. Das Schicksal der Trennung und des Beutezuges beim Abzug der Amerikaner half Zeiss und Schott nach der Wende zu überleben - so etwas hatte Geras Industrie nicht zu bieten, das Beispiel Electronicon geht aber letztlich in diese Richtung.

Und vieles, was nicht mehr bei Zeiss oder auch der Jenoptik Platz fand, war immerhin spannend genug, um es als Forschungseinrichtung auszugründen. Die Industrie und Forschung war in Jena halt schon vor der Wende deutlich zukunftsfähiger aufgestellt.

archivar hat geschrieben:
Mit der Wende und der daraus resultierenden Deindustrialisierung fielen ...zigtausende Arbeitsplätze weg, zerbrachen viele Erwerbsbiographien.


Nicht nur in Gera. Aber hier wirkt es besonders grau und besonders benachteiligt. Liegt das nur an der räumlichen Nähe zu Jena?

archivar hat geschrieben:
Für viele Leute gab es keine Perspektive mehr in der Stadt, und wer jung, etwas flexibel und nicht gerade ein Penner war, ging eben weg, um anderswo sein Glück zu suchen und oft auch zu finden (ich sehe es ganz deutlich bei meiner Tochter). Zurück blieben die Alten, die Mutlosen und die, die gerade noch über die Runden kamen.


Jena liegt in einer Entfernung, über die, egal wie lästig das Pendeln ist, in Berlin niemand ein Wort verlieren würde. Inzwischen fahren die Züge auch nicht mehr eine Stunde, sondern 35 Minuten. Und sie fahren weitaus häufiger als zu DDR-Zeiten. Warum sind nicht mehr Menschen nach Jena gegangen und haben sich dort versucht, auf dem Arbeitsmarkt gegen Jenaer zu bestehen?

archivar hat geschrieben:
Gepaart war und ist diese Entwicklung mit gravierenden Fehlern bei der Neuausrichtung der Stadt nach 1989. Wir erinnern uns, der damalige OB Galley wollte aus Gera eine Dienstleistungsstadt machen und vergaß dabei offenbar, dass Dienstleistungen auch bezahlt werden wollen und es daher auch guter und sicherer Einkommen bedarf. Diese Entwicklung setzte sich leider fort und hält im großen und ganzen bis heute an.


Da erinnere ich mich auch noch an mein eigenes Kopfschütteln. Aber wenn gleichzeitig in Geras Bevölkerung gemotzt wird, daß man immer noch zu wenig Einzelhandelsfläche hätte und daß weitere Elektromärkte fehlen würden, hat man doch letztlich perfekt "Volkswillen" umzusetzen versucht - und sei es um den Preis des gegen-die-Wand-Fahrens.

archivar hat geschrieben:
Unsägliches Parteiengezänk im Stadtrat, persönliche Befindlichkeiten und Animositäten gehen über das Gemeinwohl.


Sowas passiert halt, wenn Parteien das Sagen haben und nicht das (hier eben nicht vorhandene) Kapital. In Gera sieht man halt kein goldenes, glänzendes Ziel, nach dem letztlich (fast) alle Parteien gieren. In Gera verwaltet man keinen Überschuß, sondern Mangel. Gerade deshalb kann man sich solche Animositäten absolut nicht leisten - aber Menschen ticken leider nunmal so und es kommt genau zu diesem gefährlichen Verhalten.

archivar hat geschrieben:
Dazu kommt eine Stadtverwaltung, die angetreten scheint, dem Ger`schen Bürger die letzte Rupie aus der Tasche zu ziehen


Wenn ich nach Jena schaue, wie dort die Bevölkerung ausgenommen wird und wenn, dann nur ganz leise motzt, halte ich das nicht für ein existenzielles Problem für die Menschen in Gera. Zumindest nicht für eines, das existenzieller wäre als in Jena. Auch dann nicht, wenn es in Jena ein paar Ultrafett-Verdiener gibt. Unsere Laboranten sind auch mit einem Gehalt nach Hause geschickt worden, für das sich das Unternehmen hätte schämen sollen. Und all die anderen mit nicht Jena-speziellen Jobs, angefangen bei der Kassiererin im Discounter, nur als Beispiel. Sie mußten irgendwie auch im überteuerten Jena klarkommen, genau wie viele akademische Überlebenskünstler, die sich auf halben Stellen von Monat zu Monat hangeln und dennoch schaffen, noch 2 oder 3 Kindern liebevolle und ermutigende Eltern zu sein. Ich hatte es im Feundeskreis: unsaniertes Mietshaus mit bis vor wenigen Jahren dick Schimmel im Keller, Wohnung wie Räuberhöhle, alle Möbel offenbar vom Sperrmüll, Ofenheizung mit DDR-Einzelöfen, das Holz selbst im Wald geholt und hinterm Haus gehackt. Die Frau war sehr lange im Studium (da sie nochmal umgesattelt hat) und ist liebevolle Mutter von 3 Kindern. Sozialneid auf irgendwen kennt sie nicht, ihre Empfindsamkeit ist riesig.

Und solange es bei der Jugend für einen 50-EUR-Smartphonevertrag reicht (sowas sah ich bei unseren Azubis und ich fiel beinahe um), scheint da noch genug Geld zum Abmelken vorhanden zu sein. Ja, klar bei vielleicht 10 oder 15% der Menschen nicht, aber das ist wieder ein bundesweites und nicht nur ein Geraer Problem und eine Schande für dieses so wohlhabende Land.

archivar hat geschrieben:
gegen diesen defätistischen Moloch


Das Wort "defätistisch" triffts hervorragend, danke! Das zieht einem jede Energie raus und man muß aufpassen, nicht selbst so zu werden.

archivar hat geschrieben:
Es ist schade, dass diese Stadt derart verkommen ist, aber es wird sich auf absehbare Zeit wohl nichts ändern. Ich hatte mal gedacht, dass eine junge, progressive Generation etwas bewegen kann und will, aber diese Generation glotzt leider nur aufs Schmierhandy und kümmert sich ansonsten einen Scheiß um die Stadt.


Mir fällt gerade ein Film ein, den ich vor 3 Jahren gezeigt bekam. Gedreht wurde weltweit, u.a. in Pittsburgh. Kann man hier ab 16:12 sehen (deutsche Untertitel verfügbar). Völlig ruinierte Gegend, 20% leerstehende Gebäude. Und was machen die Leute dort? Warum geht so etwas nicht auch in Gera? Gehts uns hier noch nicht schlecht genug dafür? Ist so etwas nicht auf Deutschland oder Gera übertragbar? Es muß ja nicht diese Radikal-Methode sein, aber gleich im Anschluß daran kann man ab 22:39 sehen, was Aktivisten in einem Londoner Vorort gemacht haben.

archivar hat geschrieben:
Fazit: Optimismus für Gera habe ich nicht mehr, und wenn ich es mir leisten könnte, ginge auch ich auf Nimmerwiedersehen.


Vor 2-3 Jahren noch hatte ich noch Visionen für Gera, hätte mir auch vorstellen können, hierher zurückzukehren. Inzwischen hat sich das gesellschaftliche Klima so verändert, daß ich den Osten Deutschlands gar nicht mehr als Zukunftsoption für mich betrachte. Das tut weh, weil in Gera mein Elternhaus steht und ich das Haus und den Garten durchaus mag. Aber der Weg, den zumindest Ostdeutschland offenbar nehmen will, hat mir sämtliche Energie eliminiert. Ich hänge noch etwas zögernd an meiner Heimat, obwohl eigentlich klar ist, daß es keine Heimat mehr ist und ich nach Westdeutschland gehen muß oder noch weiter weg. Nicht wegen "mehr Geld". Nicht wegen "mehr Karriere". Sondern weil ich nach Möglichkeit in Frieden leben möchte.


Nach oben
 Profil  
 
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:  Sortiere nach  
Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 8 Beiträge ] 

Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde [ Sommerzeit ]


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 56 Gäste


Du darfst keine neuen Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst keine Antworten zu Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht ändern.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du darfst keine Dateianhänge in diesem Forum erstellen.

Suche nach:
Gehe zu:  
cron
POWERED_BY
Deutsche Übersetzung durch phpBB.de