watson hat geschrieben:
Es ging mir aber nicht so um das Aussehen der Leute, sondern um ihren Missmut.
Ok, wir geben eine neue Parole aus: Wismut statt Missmut.
Scherz beiseite.
Das Aussehen korreliert leider häufig mit dem Innenleben. Und nein, damit meine ich nicht die Herkunft von Kleidung dergestalt, daß sie aus teuren Edelboutiquen kommen oder durchgestylt sein muß, um als "angenehm" durchzugehen. Im Gegenteil. Es mag an mir und meiner ganz speziellen Wahrnehmung liegen, aber meine bisherige Lebenserfahrung sagt mir, daß eher gilt: je lifestyliger und "edler" die Kleidung, umso weniger Inhalt. Je mehr Make-Up, umso weniger dahinter. Die Leute, mit denen ich die allerbesten Erfahrungen gemacht habe, auch was geistig-kulturelles Niveau, Bodenständigkeit und Eignung für eine zukunftsfähige Gesellschaft betrifft, waren nicht von angesagten Edel- oder Lifestyle-Marken ausgestattet, sondern eher so das Publikum, was man auf Biobauernhöfen findet.
Auf "meinem Berg" in der Schweiz war mal eine Volontärin, die sich schminkte und eher wie "Großstädterin vorm abendlichen Szeneausgang" wirkte. Das war die krasse Ausnahme, das fiel wirklich auf, weil sonst niemand dort auf die Idee käme, seine natürliche Schönheit zu verkleistern. (Die Frau war voll ok, aber es war schade, daß sie sich so verunstaltete.)
Zur Abwechslung mal was schönes: ich hatte gestern noch was im Elster-Forum zu besorgen, fuhr mit dem Rad dorthin und stellte das Rad wie immer hinter dem Fahrradständer ab, weil man es dort gut am Rahmen anschließen kann. Da bemerkte ich zwei Kinder, offenbar Geschwister, vielleicht 8 und 11 oder so. Sie hatten ihre Räder dabei und versuchten, sie auf "offiziellem" Wege anzuketten, was freilich scheiterte, da das so ein dämlicher Speichenkiller-Fahrradständer ist, bei dem man nur das Vorderrad anschließen kann. Ich merkte, daß die Kinder selbst nicht glücklich waren mit dieser Lösung und riet ihnen, es mir gleich zu tun und die Räder hinter dem Fahrradständer anzuschließen. Das taten sie dann auch, beide waren absolut natürlich, offen, freundlich, kommunikativ, intelligent und intakt. Mir hat das fühlbar gutgetan und mir für die nächsten 10 Minuten richtig gute Energie gegeben. Es ist also noch nicht alles verloren.
Als Nachtrag zur vorgestern (sorry, mein Kopf ist derzeit so voll und leider meist mit unerfreulichen Themen):
@archivar hat ja schon (fast) alles aufgeschrieben, was es zur aktuellen Situation zu sagen gäbe. Das trifft sicher auch alles zu (in manchen Dingen stecke ich nicht so tief drin), aber ich behaupte: das ist bereits zumindest zu einem Teil Ursache und nicht Folge / Wirkung.
Ich versuchs mal zu erklären.
Es war um 2003-2004, als ich zutiefst frustriert war, keine Freundin zu haben. Ich versuchte, mich darüber mit einem psychisch sehr stabilen Freund (Unternehmer, hat sich tatsächlich eine Art "Imperium" aufgebaut, ist einer der besten und umtriebigsten Yogalehrer und heilkundlichen Psychotherapeuten des Landes) zu unterhalten, bemerkte aber zunehmend Unwillen bei ihm, mir zuzuhören. Irgendwann sagte er, ich kann dir ganz klar sagen, warum du alleine bist: weil du dich beklagst. Und niemand mag seine kostbare Lebenszeit mit jemandem teilen, der sich dauernd beklagt und übellaunig ist. Ich entgegnete darauf, daß ich einen sehr klaren und berechtigten Grund habe, übellaunig zu sein und mich zu beklagen: ich habe keine Partnerin. Darauf er wieder "nein, du hast keine Partnerin, weil du dich beklagst". Damit war das Gespräch dann auch beendet, denn er hatte keine Lust mehr darauf.
Ich blieb alleine und war 3 Jahre beruflich aus Jena weg. Dann ergab sich ein erneuter Ortswechsel zurück und ich lernte im Yoga-Kurs bei genau diesem Yoga-Lehrer eine Frau kennen. Also ich sah sie und hatte schlagartig die Gewissheit: "die ist es!". Und ja, sie ist bis heute die einzige Frau, die ich je kennenlernte, mit der ich eine seelische Verbindung fühlte und fühle. Sie ist bislang die einzige Frau, mit der ich eine Parterschaft wenigstens hätte versuchen wollen.
Diese Frau lehnte mich ab und hatte panische Angst vor mir, die sich steigerte, als ich ihr ein Jahr später sagte, daß ich sie mag.
Ich blieb in dem Abstand, den sie brauchte, ihr dennoch liebevoll verbunden und mit der Zeit kam ein kleinwenig Kontakt zustande, weil ich so ausdauernd geblieben war. Die Frau erklärte mir dann, warum wir nicht zusammenpassen würden. Grund 1: sie hatte Angst vor mir, weil ich Physiker war und Physiker / Techniker / Informatiker ihr allgemein als unfähig zu liebevollem Kontakt und unfähig zu Empathie in Erinnerung waren. Grund 2: sie empfand mich als übellaunig (sie nannte es später "Miesmuschel") und als unzufrieden mit meinem Leben wirkend. Und das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen, sie war und ist mit dem eigenen Überleben beschäftigt.
Derweil hatte sie schon eine Fernbeziehung begonnen, aus der inzwischen eine Ehe und 2 weitere Kinder hervorgegangen sind.
Wir sind heute Freunde, aber ich werde zeitlebens Single bleiben. Ich habe mir meine Chance auf eine eigene liebevolle Familie u.a. dadurch verspielt, daß ich aufgrund meiner von mir als unbefriedigend empfundenen Situation übellaunig war und mich beklagt habe. Die Situation wird deshalb nun dauerhaft bestehen bleiben, nur das Übellaunige habe ich mir weitgehend abgewöhnt.
Und so sehe ich das auch im Falle von Gera. Der von Dir so genannte "Missmut" ist Standortnachteil. Er mag teils auch Folge bestimmter Dinge und Entwicklungen sein, aber vor allem fungiert er als Standortnachteil, als Grund, Gera zu meiden.
Wenn ich in meinen Jenaer Zeiten Menschen, die von anderswoher kamen, um bei uns zu arbeiten und die in Jena keine Wohnung fanden, auf Gera hinwies, war ein Image immer schon vorher da und ich wurde informiert, daß Gera nicht in Frage käme, weil die Stimmung in der Stadt so schlecht, weil die Menschen so grau und unfreundlich wären. Letztlich: daß Gera schlecht für die eigene Entwicklung ist, daß einem dann was Nachteiliges anhaftet. Das war einer der Gründe. Klar, es gibt auch andere (Kneipen-Liebhaber suchen auch lieber monatelang in Jena nach einer Unterkunft, aber bitte fußläufig zur Wagnergasse), aber das Image, das Gera anlastet, war vor allem die Ödnis einer grauen, gefrusteten Stadt.
Und damit wird es wohl für immer so bleiben müssen. Es sei denn, ein relevanter Anteil der Geraer Bevölkerung entscheidet sich, den äußeren Umständen zum Trotz dennoch ein progressives, lebensbejaendes Bild abgeben zu wollen.
Schaue ich zurück, fällt mir immer wieder mal etwas auf, das darauf hindeutet, daß das keine Entwicklung der Nachwendezeit sein kann, sondern zumindest Grundlagen davon vorher schon da waren:
Meine Großmutter hat spielende Kinder vor unserem Haus vertrieben. Sie dürften da nicht spielen, sie wohnen schließlich auch nicht da. "Willkommenskultur" wurde also schon um 1980 zumindest hier vorm Haus in Untermhaus großgeschrieben.
Vor eineinhalb Jahren lernte ich eine Frau kennen, die Anfang der 1980er Jahre in Leipzig was technisches studiert hat. Sie hatte damals mit 2 andere Frauen engeren Kontakt, eine aus Jena, eine aus Gera. Die Jenaerin war vom Wesen her optimistisch, die Geraerin pessimistisch bis ätzend. Das war ihr so in Erinnerung geblieben, daß sie es mir gleich berichtete, als die Stichworte "Gera" und "Jena" gefallen waren.
Im Sommer 1989 (also auch noch DDR) lief ich mit 3 Schulfreunden eines Morgens die Schafwiesenstraße vor. Die 3 hatten nach der Geburtstagsparty einer Mitschülerin bei mir übernachtet. Wir waren guter Laune und lachten über ein damals überaus dämlich kreuz und quer über die Straße gespanntes Telefonkabel (für dessen Leitungsführung die Anwohner freilich nichts konnten, die waren froh, auf diesem Wege einen "halben" Anschluß bekommen zu haben). Da flog ein Fenster auf und eine Frau bellte uns an, wir hätten hier gefälligst nichts zu lachen. Meine 3 Freunde (alle nicht aus Gera) waren heftig erschrocken. Sowas geht hier ab in unmittelbarer Nachbarschaft?
Klar, alles Einzelfälle, aber das ist von der Grundstimmung her letztlich auch das, was mir als bestimmend zu "Gera" einfällt. Sensible Menschen, die intaktes Bürgertum mit Bewusstsein für die Gemeinschaft vielleicht aus ihrer Heimat kennen, nehmen so etwas auch wahr und meiden die Stadt.
Ich muß zugeben, vor allem aus den letzten Jahren ähnliche Klagen aus Jena zu vernehmen: aggressive, übellaunige Zeitgenossen, die offenbar vor allem deshalb herummotzen, weil sie annehmen, aufgrund ihrer hohen Lebenshaltungskosten in der überteuerten Lifestyle-Stadt hätten sie eine Art "Vorrecht auf Vorfahrt" und wären besonders wichtig und also bevorzugt zu behandeln. Dennoch schlägt das bislang nicht auf die im Mainstream vorherrschende Meinung über Jena durch.
Im Falle von Gera kann ich mir noch folgendes vorstellen: Gera war per Definition wichtig zu DDR-Zeiten, denn es war zur Bezirksstadt gemacht worden. Ich kenne den genauen Grund nicht, vermute aber, daß Gera gegenüber Jena den Vorzug bekam, weil Gera eine traditionelle Arbeiterstadt war, während Jena bereits damals schon eher eine Akademiker-Stadt war. Und die DDR verstand sich offiziell ja nicht als Akademiker-Diktatur, sondern als Arbeiter-und-Bauern-Staat. Vielleicht hat dieses Wissen darum, daß man eigentlich nur wegen "der Bonzen" wichtig war, und die eigentlich tief verwurzelte Ablehnung dieser Bonzen dazu geführt, daß die Stimmung in Gera so komisch ist? Oder - so man zur Polit-Elite gehörte - das Wissen, daß die eigene Wichtigkeit nur per Verordnung galt, real mit nichts unterfüttert war und man von der Bevölkerungsmehrheit nicht allzusehr gemocht wurde. Das sind nur Thesen, sie müßten erforscht werden.
Ein anderer Grund der Ablehnung von Gera, der mir genannt wurde, ist noch heftiger als die Missmutigkeit: wer in Jena Kinder hatte, wollte teils auch seine Kinder nicht mit Geraer Kindern zusammen in der Kita oder in der Schule haben, weil Nachteile bei der Entwicklung befürchtet wurden. Und das waren wohlgemerkt keine Jenenser, denen man evtl. eine alte Gera-Abneigung hätte unterstellen können, sondern Zuzüge, teils mit Ost-, teils mit West-Sozialisation. Das ist dann schon krass, da schluckt man dann schon. Ich kenne auch Schilderungen derart, daß Familien extra nach Jena zogen, damit "Jena" in der Geburtsurkunde des Kindes steht. Man erhofft sich dadurch Vorteile fürs Kind.
Und nun fand man ja letztens dieses hier heraus:
http://www.mdr.de/exakt/eslw-bildungschancen-100.html - und dann sieht das ganze schon klarer aus und man versteht, wovor man sich fürchtet. "Jena" ist auch nicht homogen, sondern klar in teure zentrale Wohngegenden und die Schlafstädte am Rand getrennt. Die Zahlen für Erfurt und Gera stehen auch gleich mit dabei. Im Klartext: in gesamt-Jena 53,1% der künftigen Fünftklässler mit Gymnasialempfehlung, in Gera nur 34%. Da Kinder nicht nach ihrem Geburtsort fähig oder unfähig geboren werden, muß hier nach der Geburt was schiefgehen. Nicht bei allen, aber doch bei so vielen in Gera mehr als in Jena, daß es statistisch sehr, sehr signifikant wird. Natürlich auch anderswo und nicht nur in Gera, aber eben auch in Gera. Sind die Lehrer in Gera so streng? Vermutlich nicht, hier kann nur weniger Substanz bei den Schülern die Ursache sein, verursacht durch das Gefühl des ohnehin-Abgeschrieben-Seins oder des Fehlens jeglicher intellektueller Anreize im Elternhaus, was wiederum vom dortigen Gefühl des ohnehin-Abgeschrieben-Seins verursacht sein kann.
Ich würde ja beinahe sagen wollen, eine typische Jenaer "Kinder-Laufbahn" heißt, das Kind hat naturwissenschaftliche Vorschulbildung, überspringt in der Grundschule einen Jahrgang, kommt dann an die Zeiss-Spezialschule, macht sein Informatik-, Mathe- oder Physikdiplom bis auf die fehlende Prüfung während der Schulzeit "nebenbei" fertig, diplomiert (ok, gemäß Bolognese heißen die Abschlüsse heute ja anders), sobald das Abitur (eine Formsache) abgelegt ist und beginnt im Alter von 18 Jahren direkt mit der Promotion, um mit 23 Professor zu sein. Natürlich ist das keine typische Laufbahn, aber solche Fälle gab und gibt es. Und was ich in einer Jenaer Schule, in deren Aula wir im Februar eine Veranstaltung hatten, so an Wandzeitungen und Aushängen zu sehen bekam, zeigte mir: Zukunftsfähigkeit wohnt genau dort. Man ist sich dort offenbar bewußt, was wichtig ist in einer sich rasant verändernden und immer mehr zusammenrückenden Welt. Das Kontrastprogramm dazu hat die ZEIT vergangenen Sommer aus Gera berichtet. Zum Glück gibt es aber auch in Gera Lichtblicke, wie z.B. die musischen Aktivitäten am Rutheneum. Das hat Jena in dieser Form nicht zu bieten.
archivar hat geschrieben:
Bis 1990 war Gera wirtschaftlich durchaus stark, denken wir an Wismut, Zeiss, Elektronik, Modedruck, Wema und vieles mehr. Es wurde gut verdient, Neubauten entstanden, die Stadt war voller junger Leute (denen durchaus auch etwas geboten wurde), das Durchschnittsalter deutlich niedriger als heute.
Dabei fällt aber auf, daß fast alle diese Unternehmen "Industrie 1.0" waren, also eher Überbleibsel aus der "Eisenzeit". Ausnahme: Zeiss und Teile von Elektronik Gera. Die westliche Welt war aber bereits auf dem Weg in die "Silizium-Zeit", so daß es leider völlig zwingend war, daß das meiste auf der Strecke blieb - genau wie in NRW. Nicht unter den Tisch kehren sollten wir allerdings, daß Elektronik Gera immerhin so gut gerettet wurde, dank Herrn Holbe. Natürlich ist auch das nur ein Bruchteil der einstigen Mitarbeiterzahl, aber das ist ein großer Brocken. Wäre auch in Jenaer Dimensionen ein großer Brocken.
In Jena war die industrielle Vorgeschichte anders, man hatte dank einer grandiosen Weimarer Fehlentscheidung irgendwann eine Ansiedlung eines gewissen Carl Zeiss, der Rest ist Geschichte. Zeissianer waren immer schon ein ganz eigenes, stolzes Volk, das dürfte in Jena dabei geholfen haben, den Kopf oben zu behalten. Das Schicksal der Trennung und des Beutezuges beim Abzug der Amerikaner half Zeiss und Schott nach der Wende zu überleben - so etwas hatte Geras Industrie nicht zu bieten, das Beispiel Electronicon geht aber letztlich in diese Richtung.
Und vieles, was nicht mehr bei Zeiss oder auch der Jenoptik Platz fand, war immerhin spannend genug, um es als Forschungseinrichtung auszugründen. Die Industrie und Forschung war in Jena halt schon vor der Wende deutlich zukunftsfähiger aufgestellt.
archivar hat geschrieben:
Mit der Wende und der daraus resultierenden Deindustrialisierung fielen ...zigtausende Arbeitsplätze weg, zerbrachen viele Erwerbsbiographien.
Nicht nur in Gera. Aber hier wirkt es besonders grau und besonders benachteiligt. Liegt das nur an der räumlichen Nähe zu Jena?
archivar hat geschrieben:
Für viele Leute gab es keine Perspektive mehr in der Stadt, und wer jung, etwas flexibel und nicht gerade ein Penner war, ging eben weg, um anderswo sein Glück zu suchen und oft auch zu finden (ich sehe es ganz deutlich bei meiner Tochter). Zurück blieben die Alten, die Mutlosen und die, die gerade noch über die Runden kamen.
Jena liegt in einer Entfernung, über die, egal wie lästig das Pendeln ist, in Berlin niemand ein Wort verlieren würde. Inzwischen fahren die Züge auch nicht mehr eine Stunde, sondern 35 Minuten. Und sie fahren weitaus häufiger als zu DDR-Zeiten. Warum sind nicht mehr Menschen nach Jena gegangen und haben sich dort versucht, auf dem Arbeitsmarkt gegen Jenaer zu bestehen?
archivar hat geschrieben:
Gepaart war und ist diese Entwicklung mit gravierenden Fehlern bei der Neuausrichtung der Stadt nach 1989. Wir erinnern uns, der damalige OB Galley wollte aus Gera eine Dienstleistungsstadt machen und vergaß dabei offenbar, dass Dienstleistungen auch bezahlt werden wollen und es daher auch guter und sicherer Einkommen bedarf. Diese Entwicklung setzte sich leider fort und hält im großen und ganzen bis heute an.
Da erinnere ich mich auch noch an mein eigenes Kopfschütteln. Aber wenn gleichzeitig in Geras Bevölkerung gemotzt wird, daß man immer noch zu wenig Einzelhandelsfläche hätte und daß weitere Elektromärkte fehlen würden, hat man doch letztlich perfekt "Volkswillen" umzusetzen versucht - und sei es um den Preis des gegen-die-Wand-Fahrens.
archivar hat geschrieben:
Unsägliches Parteiengezänk im Stadtrat, persönliche Befindlichkeiten und Animositäten gehen über das Gemeinwohl.
Sowas passiert halt, wenn Parteien das Sagen haben und nicht das (hier eben nicht vorhandene) Kapital. In Gera sieht man halt kein goldenes, glänzendes Ziel, nach dem letztlich (fast) alle Parteien gieren. In Gera verwaltet man keinen Überschuß, sondern Mangel. Gerade deshalb kann man sich solche Animositäten absolut nicht leisten - aber Menschen ticken leider nunmal so und es kommt genau zu diesem gefährlichen Verhalten.
archivar hat geschrieben:
Dazu kommt eine Stadtverwaltung, die angetreten scheint, dem Ger`schen Bürger die letzte Rupie aus der Tasche zu ziehen
Wenn ich nach Jena schaue, wie dort die Bevölkerung ausgenommen wird und wenn, dann nur ganz leise motzt, halte ich das nicht für ein existenzielles Problem für die Menschen in Gera. Zumindest nicht für eines, das existenzieller wäre als in Jena. Auch dann nicht, wenn es in Jena ein paar Ultrafett-Verdiener gibt. Unsere Laboranten sind auch mit einem Gehalt nach Hause geschickt worden, für das sich das Unternehmen hätte schämen sollen. Und all die anderen mit nicht Jena-speziellen Jobs, angefangen bei der Kassiererin im Discounter, nur als Beispiel. Sie mußten irgendwie auch im überteuerten Jena klarkommen, genau wie viele akademische Überlebenskünstler, die sich auf halben Stellen von Monat zu Monat hangeln und dennoch schaffen, noch 2 oder 3 Kindern liebevolle und ermutigende Eltern zu sein. Ich hatte es im Feundeskreis: unsaniertes Mietshaus mit bis vor wenigen Jahren dick Schimmel im Keller, Wohnung wie Räuberhöhle, alle Möbel offenbar vom Sperrmüll, Ofenheizung mit DDR-Einzelöfen, das Holz selbst im Wald geholt und hinterm Haus gehackt. Die Frau war sehr lange im Studium (da sie nochmal umgesattelt hat) und ist liebevolle Mutter von 3 Kindern. Sozialneid auf irgendwen kennt sie nicht, ihre Empfindsamkeit ist riesig.
Und solange es bei der Jugend für einen 50-EUR-Smartphonevertrag reicht (sowas sah ich bei unseren Azubis und ich fiel beinahe um), scheint da noch genug Geld zum Abmelken vorhanden zu sein. Ja, klar bei vielleicht 10 oder 15% der Menschen nicht, aber das ist wieder ein bundesweites und nicht nur ein Geraer Problem und eine Schande für dieses so wohlhabende Land.
archivar hat geschrieben:
gegen diesen defätistischen Moloch
Das Wort "defätistisch" triffts hervorragend, danke! Das zieht einem jede Energie raus und man muß aufpassen, nicht selbst so zu werden.
archivar hat geschrieben:
Es ist schade, dass diese Stadt derart verkommen ist, aber es wird sich auf absehbare Zeit wohl nichts ändern. Ich hatte mal gedacht, dass eine junge, progressive Generation etwas bewegen kann und will, aber diese Generation glotzt leider nur aufs Schmierhandy und kümmert sich ansonsten einen Scheiß um die Stadt.
Mir fällt gerade ein Film ein, den ich vor 3 Jahren gezeigt bekam. Gedreht wurde weltweit, u.a. in Pittsburgh. Kann man
hier ab 16:12 sehen (deutsche Untertitel verfügbar). Völlig ruinierte Gegend, 20% leerstehende Gebäude. Und was machen die Leute dort? Warum geht so etwas nicht auch in Gera? Gehts uns hier noch nicht schlecht genug dafür? Ist so etwas nicht auf Deutschland oder Gera übertragbar? Es muß ja nicht diese Radikal-Methode sein, aber gleich im Anschluß daran kann man ab 22:39 sehen, was Aktivisten in einem Londoner Vorort gemacht haben.
archivar hat geschrieben:
Fazit: Optimismus für Gera habe ich nicht mehr, und wenn ich es mir leisten könnte, ginge auch ich auf Nimmerwiedersehen.
Vor 2-3 Jahren noch hatte ich noch Visionen für Gera, hätte mir auch vorstellen können, hierher zurückzukehren. Inzwischen hat sich das gesellschaftliche Klima so verändert, daß ich den Osten Deutschlands gar nicht mehr als Zukunftsoption für mich betrachte. Das tut weh, weil in Gera mein Elternhaus steht und ich das Haus und den Garten durchaus mag. Aber der Weg, den zumindest Ostdeutschland offenbar nehmen will, hat mir sämtliche Energie eliminiert. Ich hänge noch etwas zögernd an meiner Heimat, obwohl eigentlich klar ist, daß es keine Heimat mehr ist und ich nach Westdeutschland gehen muß oder noch weiter weg. Nicht wegen "mehr Geld". Nicht wegen "mehr Karriere". Sondern weil ich nach Möglichkeit in Frieden leben möchte.